Wir verbringen immer mehr Zeit in einem Paralleluniversum, der „Welt hinter dem Bildschirm“, über das Ossi Urchs und ich uns zu Beginn unseres neuen Buchs, „Digitale Aufklärung – Warum uns das Internet klüger macht“, ausführlich Gedanken machen. Diese „virtuelle“ Welt ist unserer „realen“ Welt sehr ähnlich: Es gibt dort alles, was es diesseits auch gibt, nämlich Gutes und Böses, Schönes und Hässliches, dumme und kluge Menschen. Aber es gibt auch Unterschiede zwischen diesen Welten, zum Beispiel andere Spielregeln. In „Alice im Wunderland“ darf zum Beispiel der König beim Schach so oft ziehen, wie er will – aber es wird dort immer noch Schach gespielt.
Was wir heute erleben (und in Zukunft immer mehr erleben werden) ist aber, dass diese beiden Welten verschwimmen und sich gegenseitig verändern. Davon handelt unsere dritte These zur Digitalen Aufklärung, die wir hier zur Diskussion stellen.
These 3: Die digitale und die reale Welt durchdringen sich immer mehr. Das verändert beide mit rasender Geschwindigkeit und in einem bisher unvorstellbaren Maß.
Wenn technische und wirtschaftliche Entwicklungen erst einmal das gesellschaftliche wie das persönliche Leben tiefgreifend verändert haben, dann lassen sie sich kaum mehr ungeschehen machen: Das Rad der Geschichte kann man bekanntlich nicht zurückdrehen. Zumal sich im Zuge dieser Entwicklung ein weiteres, ebenso merkwürdiges wie bemerkenswertes Phänomen eingestellt hat: Waren bis vor wenigen Jahren noch die digitale und die „reale“ Welt fein säuberlich voneinander getrennt, so haben beide inzwischen begonnen, sich mehr und mehr gegenseitig zu durchdringen.
So weisen uns Navigationsgeräte nicht einfach den Weg: Die von ihnen bereitgestellten digitalen Informationen erlauben uns erst den „richtigen“, den schnellsten oder den schönsten Weg zu wählen. „Augmented Reality“ bedeutet in der Übersetzung nicht einfach eine „Anreicherung“ unserer Wirklichkeit: Das, was wir als „Wirklichkeit“ erleben und verstehen wird tatsächlich in zunehmendem Maß aufbereitet und vermischt mit unsren Eindrücken aus der „realen“ Welt, angereichert mit zusätzlichen Informationen und angezeigt auf einem Smartphone oder durch neuartige „wearable“ Computer, etwa spezielle Brillen, wie Google’s Projekt „Glass“. So entsteht gerade eine neuartige, digitale „Infosphäre“, die mehr und mehr Dinge in unserer unmittelbaren Umgebung genauso umgibt wie den ganzen Planeten.
Das bedeutet keineswegs, dass wir alle in Zukunft wie Zombies hilflos den Anweisungen unserer digitalen Bewegungshilfen folgend durch die Welt irren werden. Im Gegenteil müssen und werden wir lernen, Relevanz zu beurteilen, also Informationen so zu filtern, dass sie uns hilfreich und nützlich sind. Sollten sie uns ablenken oder gar stören, werden wir die entsprechende Informationsquelle einfach ausschalten.
Aber wenn wir die Infosphäre abschalten, werden wir das mit der gleichen Haltung tun, die es uns auch heute noch erlaubt, einen Stummfilm anzuschauen und zu genießen. Der bewusste Verzicht eröffnet uns die Möglichkeit eines ebenso asketischen wie ästhetischen Genusses. Es fehlt also nicht einfach eine Dimension des (Multi-)Mediums, sondern diese Reduktion erhöht unsere Konzentration auf andere Aspekte. Wobei wir wohl wissen, dass wir immer und jederzeit in der Lage sein werden, zusätzliche Dimensionen per Knopfdruck wieder zu aktivieren.