Die Zeit ist gut: Zwischen dem Ende der Liga und der Pokalturniere und dem Beginn der EM richten wir den Blick rückwärts auf ein paar Fussballerlebnisse der vergangenen Saison….
20. März 2012 – München
Theater ist große Unterhaltung, aber eben für Minderheiten. Fußball auch. Zwar mögen am Wochenende zig Tausend Zuschauer mehr in die Bundesliga-Stadien pilgern als in die Theater und Opernhäuser, letztlich aber bieten beide ein Programm, das von einem Teil der Bevölkerung abgöttisch geliebt wird, während ihm ein anderer Teil der Bevölkerung mit kolossalem Unverständnis begegnet.
Die Gemeinsamkeiten gehen noch weiter: Der Schauwert ist immens – zumindest bei guten Spielen und guten Inszenierungen. Für den Wert der Unterhaltung wie auch der Spannung gilt selbiges. Fußballplätze sind stellvertretende Schlachtfelder, Bühen auch. Und es gibt noch mehr Parallelen:
Die Ticketpreise können auf dem Schwarzmarkt ins Unermessliche steigen, wenn Jonas Kaufmann singt oder Lionel Messi spielt.
Andererseits fragen sich im Theater und im Stadion nicht selten Akteure und Zuschauer kopfschüttelnd, was sich der Spielleiter eigentlich gedacht hat. Es gibt dramatische und komische Szenen, Spannung und erlösende Momente, innige Umarmungen und erbitterte Duelle.
Ich schaue dem Geschehen gern zu: Auf den weltbedeutenden Brettern wie auf dem Rasen. Und so zieht es mich mal in die Arena und mal in die Staatsoper.
Am 20. März stand in München „Macbeth“ auf dem Spielplan:
Zeljko Lucic und Nadja Michael stehen als Tyrannenpaar auf der Bühne und überziehen das Schottland des 11. Jahrhunderts mit Mord, Blut und Intrigen. Eine großartige Inszenierung, Verdis Musik ist eingänglich, das Libretto selbstverständlich auf italienisch, leider funktioniert die Übersetzungstafel zunächst nicht. Als Zuschauer ist man also gezwungen, der bekannten Handlung und dem italienischen Text konzentriert zu folgen. Die Inszenierung schwelgt in Bildern. Als wäre so schön, wenn nicht…
Ja was?
Wenn nicht 174 km weiter nördlich das Pokalhalbfinale zwischen der Spielvereinigung Greuther-Fürth und dem BVB stattfinden würde. Die Anfangszeiten sind denkbar schlecht getaktet, die Termine sowieso. Und so nützt es gar nichts, in der Opernpause schnell vor’s Gebäude zu treten, das Telefon zu zücken und die Kicker-App zu aktivieren.
Ich tue es trotzdem und finde mich inmitten eines Pulks bestehend aus zwei schwer suchtkranken Personengruppen wieder. Gruppe 1 lechzt nach Nikotin, Gruppe 2 nach Neuigkeiten. Die erstgenannten rauchen, die anderen tippen hektisch auf den Smartphones herum. Suchtgruppe 3 – das sei am Rande bemerkt – versammelt sich derweil in den Erfrischungsräumen zum Gläschen Sekt.
Dumm ist nur: Opernpause ist, als das Spiel gerade mal seit fünf Minuten läuftt. Es kann also noch nicht viel passiert sein, und es ist auch noch nichts passiert. Das ändert sich auch nicht, als die Pause sich dem Ende neigt und wir zu den Plätzen gerufen werden. Noch kurz bevor der Vorhang sich öffnet, aktualisiere ich ein letztes Mal den Kicker-Livestream. Noch immer 0:0. Beunruhigt schalte ich aus und widme mich dem Fortgang des Dramas.
Natürlich könnte ich auch die Vereins-App aktivieren, die das Smartphone immer dann vibrieren lässt, wenn die Borussen ein Tor schießen. Das habe ich auch schon probiert. Für Gegentore gibt’s dann aber keinen Vibrator, so weiß ich dann trotzdem nicht, wie es gerade steht. Außerdem: Bitte – ich bin in der Oper und nicht in einer Parlamentsdebatte. Es gibt genug Drama auf der Bühne, wozu sich ablenken lassen?
Als McDuff den vor ihm knienden Macbeth das Schwert in den Leib rammt, befällt mich Unruhe. Wie steht’s in Fürth? Leben noch alle? Spielen noch alle? Gab’s Verletzte? Tote?
Das Spiel wie auch die Oper neigen sich dem Ende. Jetzt noch die Akklamation des Königs und gut ist’s.
Das Publikum tobt vor Begeisterung. Das heißt: Die Klatschorgie will nicht enden und ich kann mein Telefon noch immer nicht reaktivieren. Wie bitte würde es denn ausschauen? Das Licht ist bereits an, jeder würde es sehen. Wie peinlich wäre das? Die Spannung steigt.
Auf dem Weg zur Garderobe drücke ich Pin und Display-Sperre und warte geduldig. Das Spiel müsste aus sein. Ich MUSS einfach wissen, wer gewonnen hat. JETZT, SOFORT! Es geht immerhin um den Einzug ins Pokalfinale (das bekanntlich wer gewonnen hat?)
Es dauert ein wenig, dann tickert Kicker Short-News aus der Nachspielzeit. Noch immer 0:0.
Und hier, so stelle ich fest, ist Fußball der Bayerischen Staatsoper überlegen. Oder hat es jemals eine Verlängerung gegeben? Wie könnte es auch, wenn am Ende von „Macbeth“ fast alle tot sind.
Statt der Verdi’schen Musik nachzuhängen, läuft auf dem Weg nach Hause im Autoradio die Live-Übertragung: Der Greuther Trainer Max Grün wird zwei Minuten vor Schluss den Ersatztorwart Jasmin Fejzic aufs Feld bringen, um im anstehenden Elfmeterschießen gerüstet zu sein. Ilkay Gündogan wird in der 120. Minute den Pfosten treffen, der Ball wird abprallen, den unglücklichen Fejzic berühren und hinter ihm im Tor landen. Großkreutz wird den Ex-Schalker Asamoah auf dem Platz beschimpfen, es wird zu Tumulten kommen, es wird einen Moment dauern, bis alle realisiert haben, was soeben passiert ist. Mal ehrlich: Das hätte kein Opernregisseur besser inszenieren können…
Die Reihe wird fortgesetzt am 01.06.2012
Was bisher geschah:
Teil 1: König Fussball im digitalen Zeitalter
Teil 2: Drin oder nicht drin? Das ist hier die Frage
Teil 3: Der Eine und der Andere. Anmerkungen vor dem Pokalfinale
Teil 4: Mit Hummer und Avocado gegen England – sehr analog und sehr teuer.