Die Zahlen stimmen!
Mit stolzer Brust verkündet das ARD-Werbung SALES & SERVICES Team, dass auch junge Zuschauer die Tagesschau als wichtigste mediale Informationsquelle schätzen. Wenn es um politische Meinungsbildung geht, bevorzugen selbst die Jüngeren nicht das Internet oder mobile Dienste, sondern die TV-Nachrichten im Ersten!
So steht es zu lesen im aktuellen Newsletter, den der Vermarkter der ARD an alle Kunden verschickt hat. Zu diesem dort präsentierten Ergebnis kommt das Hans-Bredow-Institut der Universität Hamburg. Und weiter heißt es im Newsletter: Nachrichten im Fernsehen sind und bleiben besonders wichtig: 94% der Deutschen nutzen mindestens einmal pro Woche ein Nachrichtenformat im Fernsehen, um sich auf den neusten Stand zu bringen. In der Relevanz steht die Tagesschau hierbei unangefochten an der Spitze: 29,1% der Befragten sehen in der Tagesschau medienübergreifend die wichtigste Informationsquelle zur politischen Meinungsbildung, ZDF heute dagegen liegt mit 5,6% deutlich dahinter.
Auch die Zuschauerzahlen verdeutlichen die absolute Alleinstellung der Tagesschau. Während die 20-Uhr-Ausgabe der Tagesschau im Durchschnitt täglich 5,19 Mio. Seher erreicht, werden andere Nachrichtensendungen wie ZDF „heute“ oder „RTL aktuell“ von 3,54 Mio. bzw. 3,81 Mio. Zuschauern gesehen.
Selbstverständlich möchte der Sender mit diesen Angaben den Werbekunden die Spots direkt vor der Tagesschau schmackhaft machen. Und nur mal so am Rande bemerkt: Die so genannte „Best Minute“ kostet laut Senderangaben € 34.800 in der bundeligaspielfreien Zeit. Samstags während der Liga steigt der Preis auf € 42.600. Für viele Werbetreibende sind das keine astronomischen Zahlen. Der Normalbürger und vermutlich ein Teil der Czyslansky-Leser wird sich aber vielleicht etwas unbehaglich fühlen, wenn er weiß, dass ein Unternehmen mit einem einzigen geschalteten Spot in dieser EINEN Minute Werbezeit mehr Geld investiert oder verbläst als ein durchschnittliches Mitarbeiterjahresgehalt. Das nämlich liegt nämlich bei rund € 2.700 pro Monat, also bei rund € 32.400 p.a.. Anhand der Gehaltsvergleichtabelle kann jeder prüfen, welche Jobs mehr und welche weniger wert sind als eine Sendeminute vor der Tagesschau. Ob der eigene dazu gehört, kann man ja am Gehaltszettel kontrollieren. Und natürlich kann auch jeder mal überlegen, wie viele Sendeminuten sein Eigenheim wert ist, sein Auto, sein Bausparvertrag usw.
Über das Werbeverhalten großer Firmen, die Budgets und ihre Verteilung ist viel geschrieben worden. Auch die Erörterung der Frage, ob und wie lange es sinnvoll ist, astronomische Beträge hinzublättern, und was das mit Moral zu tun hat, ist Gegenstand zahlreicher Betrachtungen und muss daher hier nicht wiederholt werden.
Spannend aber ist ein Blick in die Tabelle aus anderen Gründen. Trotz allen Unkenrufen und eines extrem geändertem Mediennutzungsverhalten der Jüngeren behauptet und bansprucht die gute alte Tante Tagesschau nach wie vor, die wichtigste Informationsquelle zur politischen Meinungsbildung zu sein.
Zu recht?
Laut ARD Sales und den vorgelegten Zahlen, wäre hier ein klares „Ja“ zu antworten. Aber man mag sich dennoch fragen:
- Wenn 29,1% der Befragten die Tagesschau medienübergreifend als wichtige Quelle ansehen, was sagt das über den Wert dieser Quelle aus? Steht sie für Glaubwürdigkeit, Seriosität, Ernsthaftigkeit? Liefert sie eine gute Recherche und einen sinnvollen Themenmix? Ist sie deshalb auf Platz 1?
- Haben die öffentlich-rechtlichen Medien gegenüber den Privaten einen Bonus in Sachen Glaubwürdigkeit?
- Besteht eine enorme Skepsis gegenüber Online-Markenportalen?
- Schlielich: Was bedeutet das für einen renommierten Namen wie dem Spiegel und seinem Onlineableger, dessen Wert als Informationsquelle und damit dessen Anspruch auf Seriosität?
Die Bedeutung der Spiegel-Plattform nimmt, was keine große Überraschung ist, mit dem Alter der Befragten rapide ab. Das ist sicherlich zum einem der Tatsache geschuldet, dass die „Digital Immigrants“ der Ü30 Generation sich schwerer damit tun, eigenständig für sie relevante Nachrichten aus dem Netz zu ziehen. Denn sie müssen nach selbigen selektiv suchen. Sicher ist es bequemer ein vorgefertigtes Nachrichtenpaket aus dem TV als Menü im ganzen zu konsumieren. Zum anderen ist die Generation Ü30 sicherlich längst bis ins Mark konditioniert von dem Ritual der abendlichen Tagesschau als zentrale Nachrichtensendung. Das Abendessen abgeräumt, die Kinder im Bett, das Sofa gehört uns.
Schon in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts galt es als extrem unhöflich, in der Zeit der Tagesschau bei irgendwem privat anzurufen. Diese Benimmregel ist zwar nicht mehr Bestandteil des heutigen Knigge, sie hat sich aber hartnäckig ins 21. Jahrhundert hinübergerettet. Auch heute ist bei vielen und für viele Deutsche – vor allem Ältere – ein Anruf in dieser Zeit nicht gerade Ausdruck guten Benehmens. Die Tagesschau bildet, so weit darf man gehen, einen der wenigen verlässlichen Fixpunkte im Tagesablauf großer Bevölkerungsteile, zumindest der rund 6 Millionen Zuschauer pro Tag.
Was für die 30-bis 59jährigen gilt, das stimmt erst recht für die Ü60-Generation.
Wundert es nicht, dass die mediale Kompetenz des ZDF bei den 14-19jährigen auf Null steht, zeigt sich bei den „Bestagern“ und „SilverCustomern“ eine kleine Überraschung. Die nämlich sehen Google insgesamt als bedeutendere Nachrichtenquelle an als Spiegel Online oder die gedruckte Bild. Das ist doch auch schon mal was….
5 Antworten
Die Zahlen sind mit Vorsicht zu genießen, in vieler Hinsicht.
1. So hat die BILD-Zeitung natürlich eine starke Agenda-Setting-Funktion und einen großen Einfluss auf die Meinungsbildung, auch wenn sie von vielen nicht als relevante Nachrichtenquelle eingeschätzt wird. Dies liegt zum einen daran, dass Leser ihre Nutzung des Schmuddelkinds häufig nicht zugeben, und zum anderen dass es auch sublime Informationsfunktionen gibt, die dem Rezipienten nicht in vollem Umfang bewusst werden.
2. Die Tagesschau profitiert von ihrem Marken-Renomée bei der Frage nach Seriosität und Relevanz weit stärker, als der Online-Dienst des SPIEGEL. Und da es bei dieser Studie um „Selbsteinschätzungen“ der Rezipienten geht, nicht um objektiv gemessene Nutzungsdaten, wirken diese Grundeinstellungen recht stark.
Interessant an der Studie sind die Hypothesen, die für eine themenspezifische Priorisierug der Mediengattungen aus den Ergebnissen abgeleitet werden: „Es zeigen sich mindestens drei Funktionsbereiche die sich jeweils durch spezifische Muster aus Mediengattungen auszeichnen: a) Nachrichten über Deutschland und die Welt sowie Beiträge zur politischen Meinungsbildung werden überwiegend im Fernsehen gesucht …b) regionale Informationen sind weiterhin eine Domäne der Zeitungen; die Berliner Ergebnisse zeigen allerdings, dass sich das Internet als regionale Informationsquelle etabliert; c) weichere Informationsfunktionen zu den eigenen Interessengebieten, über andere Länder und Kulturen sowie Informationen über die eigenen Bezugsgruppen werden mit einem
breiteren Spektrum von Medien und vor allem auch aus interpersonaler Kommunikation erfüllt.“
Lieber Michael,
vielen Dank für die ergänzenden, wichtigen Anmerkungen.
Ist es nicht immer wieder schön, wie Studien und deren Ergebnisse im eigenen Sinne instrumentalisiert und gedeutet werden, in diesem Fall eben von der Werbezeiten-Verkaufsmannschaft der ARD?
Wie immer gilt auch hier: Man vergleiche Äpfel mit Birnen um am Ende zu zeigen, dass die Melonen immer schon die größten im Obstkorb waren.
Das ist Marketing 🙂
Ich wüsste gerne, ob es Menschen gibt, die ihren itunes-Spielfilm-Stream immer um exakt 20:15 starten, so aus Tradition, weil um diese Zeit schon immer Spielfilme gestartet sind …
Müsste man mal bei Apple nachfragen …
Ich habe mich nun noch einmal intensiver mit der wirklich lesenswerten Studie auseinandergesetzt und hier eine kurze Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse samt einer kritischen Einschätzung abgelegt: http://www.vibrio.eu/blog/?p=4078