Brüder zum Facebook zur Freizeit – Kann die digitale Welt sozial und demokratisch sein? – Ein Vortrag in vier Teilen – Teil 1: Arbeit 2.0

Michael Kausch

Vorbemerkung

Vor einigen Tagen war ich eingeladen einen kleinen Vortrag zur Rolle des Digitalen in unseren politischen Parteien zu halten. Aber wie das so geht: man setzt sich hin und denkt und schreibt und denkt und schreibt und denkt und schreibt und schließlich bemerkt man, dass man mit all dem, was einem in den Sinn kommt, jeden Vortragssaal leer räumen kann. Wer hält heute schon noch vier Stunden Vortrag ohne Powerpoint aus? Eben. Nur Czyslansky. Und deshalb werde ich, fein positioniert in drei Teile, die Ergebnisse hier nach und nach einstellen.

Warum will eine Partei überhaupt von mir wissen, was sie mit dem Digitalen anfangen soll

Gut 33 Jahre nach der Einführung von MS-DOS und knapp 25 Jahre nach der Einführung des offenen Internet in Form des Word Wide Web sind endlich auch die großen deutschen Parteien im Neuland angekommen. Jedenfalls diskutieren sie alle etwas, was sie nur selten verstehen, vor dem sie aber irgendwie Angst haben. Sie nennen es klassisch-sozialdemokratisch und gewerkschaftsnah Digitale Arbeit, sie schwärmen katholisch-barock von Digital Citizens mit Laptop auf der Lederhose, versehen die am geschichtlichen Horizont aufscheinende Schöne neue Arbeitswelt? immerhin mit Fragezeichen wie die CDU, oder sie beschreiben mit straßenkampferprobtem Pathos unterlegt ein Freies Netz und unabhängige Medien für alle auf den Seiten 188 bis 203 in einem grünen Wahlprogramm. Auch das Netz hat den Marsch durch die Parteiinstitutionen, Bürokratien und Parteitagsbeschlüsse im Buchformat offenbar inzwischen bewältigt.

Um was geht es?

Es geht eigentlich um alles, auch um Kopf und Kragen. Denn das ist das wohl wichtigste Kennzeichen des Digitalen, dass es vor nichts Halt macht, nicht einmal vor den Parteien. Die Digitalisierung verändert unsere Arbeit, unser Lernen, unsere Unterhaltung, kurz unser Leben in all seinen Facetten. Wir müssen uns fragen, ob die digitalen Technologien die Arbeit leichter und anspruchsvoller oder eher eintöniger machen? Wir müssen uns fragen, ob wir mit Google, Facebook und Twitter leben können, ohne zugleich unser Grundrecht auf Datenschutz aufzugeben? Wir müssen uns fragen, wie sich im digitalen Zeitalter Politik, unsere demokratischen Meinungs- und Willensbildungsprozesse verändern werden? Nicht zuletzt müssen wir uns fragen, welche Rolle Parteien im digitalen Zeitalter noch spielen werden?

Im Folgenden möchte ich vier zentrale Thesen zur Diskussion stellen:
Der erste Trend heißt Arbeit 2.0: Die Digitalisierung der Arbeit schafft eine neue Gruppe von Beschäftigten, die sich in Teilen weder der klassischen Arbeitnehmerschaft, noch der Gruppe der klassischen Selbstständigen zuordnen lässt. Diese neuen Arbeitsverhältnisse sind gegenzeichnet durch große Mobilität, hohe Zeitsouveränität und ein Minimum an sozialen Sicherheiten. Der Begriff der „digitalen Beduinen“ beschreibt diese neue gesellschaftliche Gruppierung treffend.

Der zweite Trend läuft unter dem Titel Kunde 2.0: Die Rolle der Verbraucher ändert sich durch Internet und soziale Medien grundlegend: während sie einerseits durch die wachsende Relevanz öffentlicher Bewertungssysteme gegenüber den Anbietern von Waren und Dienstleistungen massiv an Macht gewinnen, werden sie durch die durchgehende Digitalisierung von Kauf- und Bewegungsprofilen für Wirtschaft und Handel zunehmend berechen- und manipulierbar.

Damit einher geht ein dritter Trend, für den ich Label Leben 2.0 einführen will: Dieser Trend wird bestimmt von Ökologisierung und sozialer Ausgrenzung. Die Digitalisierung des Handels hat erhebliche Auswirkungen auf heutige Infrastrukturen: die Bedeutung der Innenstädte für Handel und Verkehr wird ebenso zurückgehen, wie die Bedeutung der heute dominierenden Print- und Funkmedien. Gesellschaftliche Gruppen, die die hohe Veränderungsgeschwindigkeit unserer Lebenswelten nicht mitgehen können – Alte, Behinderte, sozial marginalisierte und bildungsferne Gruppen – drohen von wichtigen sozialen Welten weiter abgeschnitten zu werden.

Schließlich diskutiere ich den vierten Trend als Politik 2.0: Die digitalisierte Gesellschaft wird sich weniger über individuelle Persönlichkeitsrechte, als über kollektive Bewegungen definieren. Bislang wichtige Fundamente demokratischer Gesellschaften wie das informationelle Selbstbestimmungsrecht, Datenschutz und Autonomie des Einzelnen werden zunehmend in Frage gestellt. Gleichzeitig erhöht sich die Transparenz politischer Verhältnisse durch die Digitalisierung der Verwaltung, E-Government und Open Data.

Was diese vier Trends als kleinstes Gemeinsames verbindet ist, dass sie sich gegen eine Behandlung in Leitanträgen und Parteiprogrammen sperren, weil sie schlicht und einfach zu schnell sind für parteibürokratische Diskussionsprozesse. Digitalisierung kann man nicht beschließen, man muss sie leben, wenn man sie leiten und gestalten will.

Auf dem Weg zur Arbeit 2.0

Die Auswirkungen der Digitalisierung auf Form und Inhalt der Arbeit haben sich seit der ersten massenhaften Computerisierung der Arbeitsplätze in den Büros in den achtziger Jahren in einer eigentümlichen Dialektik entfaltet: Zergliederte der „persönliche“ Computer anfangs die Arbeitsabläufe am Büroarbeitsplatz, so setzte sich im Laufe der PC-Entwicklung und verstärkt mit der Vernetzung der PCs eine Reintegration von Arbeit durch.

Der Personalcomputer zergliedert erst die Büroarbeit …

 

In den achtziger Jahren wurden die Kommunikation zwischen den Arbeitsplätzen und individuelle Arbeitsprozesse wie das Erstellen von Inhalten, die Texterfassung am Bildschirm und nachgeordnete Arbeiten säuberlich getrennt. Da der PC als zentrales Arbeitsmittel die Beschäftigten stärker denn je an ihren Arbeitsplatz band, kam die zwischenmenschliche Kommunikation in vielen Büros zum Erliegen. Der PC wurde oftmals als enormer Stressfaktor empfunden, als Instrument zur Zergliederung der Arbeit. Tatsächlich waren Bildschirmarbeitsplätze in den frühen achtziger Jahren vor allem Plätze zur Datenerfassung. Kreative und kommunikative Tätigkeiten wurden vom PC fern gehalten.

… um sie später zu reintegrieren

 

Erst die Einführung einheitlicher Standards in der Software – Stichwort Microsoft Windows und IBM SAA – und leistungsfähiger Multiprozessrechner reintegrierte relevante Tätigkeiten der Büroarbeit aufs Neue: Die kreative Erstellung von Inhalten geschah endlich durch die gleichen Mitarbeiter, die auch für die Text- und Zahlenerfassung verantwortlich waren. Die Kommunikation zwischen Mitarbeitern und Teams wurde durch die Vernetzung der Büroarbeitsplätze wieder in den gewöhnlichen Arbeitsprozess eingebunden. Der Personalcomputer war von einem Instrument der raschen Verschlechterung individueller Arbeitsbedingungen zu einem Instrument qualifizierter Tätigkeit geworden.

Technologien richten sich nicht nach Gewerkschaftspapieren

Man könnte mit einem Blick auf die PC-Geschichte der achtziger und neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts fast meinen, der Computer habe positive und negative Potentiale aufgewiesen, die durch eine bewusste Gestaltung der Arbeitsbedingungen, etwa durch Tarifverträge für Bildschirmarbeitsplätze und das Engagement der Betriebsräte und Gewerkschaften zum Wohle der Menschen gesteuert worden wäre. Tatsächlich aber war die Gestaltung dieses dialektischen Prozesses keinen gesellschaftlichen Anstrengungen irgendwelcher Protagonisten zu verdanken, sondern einzig und allein der ganz und gar anarchischen ungesteuerten Technologieentwicklung. Die sozialdemokratische Spielwiese von Technikfolgenabschätzung und das eigensinnige Beharren auf ein Primat der Politik gegenüber der Technikentwicklung taugte stets nur zur Verschleierung der tatsächlichen stets kapitalorientierten Technologieentwicklung. Schon deshalb greifen blauäugige Parteitagsbeschlüsse, die heute auf die Förderungen der guten und die Verhinderung der negativen Potentiale bei der Digitalisierung der Arbeit setzen, zu kurz.

In einem Thesenpapier der bayerischen SPD – kein Tippfehler: die gibt’s wirklich! – heisst es: „Die Digitalisierung der Arbeit beinhaltet Chancen und Risiken. Diese Chancen und Risiken sind aber nicht technologisch vorbestimmt. Digitale Arbeit ist politisch gestaltbar“.

Das war sie nie, oder um fair zu bleiben: wenn sie dies je war, dann stets nur in engen Grenzen. In Deutschland konnten Betriebsräte am Ende des letzten Jahrhunderts schon froh sein, wenn sie, anders als ihre Kollegen in den U.S.A. oder der Schweiz, den Einzug von Apple-Computern mit ihren als unergonomisch eingestuften kleinen Monitoren in Büros weitgehend verhindern konnten. Umso mehr galt Apple in Deutschland als die Marke für meinungsbildende Freiberufler, vor allem für Designer, Grafiker und Werber. Ihnen konnten Arbeitsmediziner nichts vorschreiben.

Die Industrialisierung der Verwaltung

 

Tatsächlich führte die Computerisierung der Verwaltung zu ihrer Industrialisierung: Die Messbarkeit von Büroarbeit wurde zu großen Teilen erst mit der Einführung des Computers möglich, Verwaltungsprozesse lassen sich in einer Weise REFA-konform gestalten, wie dies bislang Arbeitsprozessen in der Produktion vorbehalten war. Die Büroarbeit erlebte eine Industrialisierung, die letztlich nicht auf Zergliederung der Arbeit, sondern auf Flexibilisierung und Beschleunigung durch Reintegration ausgelegt war.

Vergleicht man einen typischen Büroarbeitsplatz von 1980 mit einem ebenso typischen Büroarbeitsplatz von 2010, so haben sich die Anforderungen an die Qualifikation erhöht, die Monotonie hat ab-, das Arbeitstempo und die psychische Belastung haben zugenommen. Auch die Mobilität zwischen den Hierarchien ist gewachsen, wie die Berechenbarkeit des einzelnen Arbeitnehmers.

Dies alles ist in aller Regel gegen die mobilisierten Interessen der Beschäftigten durchgesetzt worden. Der jahrelange heldenhafte Kampf gegen die Einführung von Personalinformationssystemen wirkt heute lächerlich angesichts der real durchgesetzten Transparenz der Geschäftsprozesse, der individuellen Arbeitsleistung und des konkreten Verhaltens der Büroangestellten.

Der digitale Beduine und die Kapitalisierung der Büroarbeit

Während in den vergangenen dreißig Jahren die Büroarbeit mit den Kennzeichen einer Industrialisierung – Transparenz, Berechenbarkeit, Vernetzung und zunehmende Produktivitätsorientierung – entwickelt wurde, so erleben wir heute die Kapitalisierung der Büroarbeit. Vom Kostenfaktor entwickelt sich die Zirkulationssphäre scheinbar zum Wertetreiber.

Immer mehr Verwaltungstätigkeiten werden ausgegliedert und von neuen Selbstständigen oder kleinen mittelständischen Service-Anbietern erbracht. Diese Entwicklung wurde erst durch die Industrialisierung der Büroarbeit möglich. Dabei wurden die Bereiche der Zirkulationssphäre in Wellen erfasst, beginnend bei kreativen Tätigkeiten in Werbung und Design über Web- und Finanzdienstleistungen bis hin zu steuernden Managementaufgaben, die mehr und mehr über Bodyleasing und Interimsmanager realisiert werden.

Es entsteht eine völlig neue Form von Arbeit, die zum Teil noch in flexiblen projektorientierten Teams innerhalb der Unternehmensorganisation erledigt wird, zum Teil über schein- und wirklich selbstständig agierende Dienstleister. Als neuer Prototyp bildet sich der digitale Beduine heraus.

Der Begriff des digitalen Beduinen ist zurecht an die Stelle desjenigen vom digitalen Nomaden getreten. Von Urban Nomadism sprach Marshall McLuhan erstmals in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts. Unter Verweis auf die Welt, die durch moderne Kommunikationsmittel – dabei dachte McLuhan vor allem an Telefon und Fax, von mobilen Computern war da noch gar nicht die Rede – zum Dorf werde, entwickelte er ein Bild vom neuen Arbeiter, der „ein beschleunigter, elekronischer Nomade sein [würde], überall unterwegs im globalen Dorf, aber nirgends zuhause“.

Franz-Josef Degenhart hat dieses Bild schon wenig später demaskiert:

Wenn‘s mal keine Arbeit gibt bei Krupp in Essen
nun, dann wird eben umgeschult oder besser noch
dann zieht man dahin wo’s Arbeit gibt
nach München oder Hamburg und vielleicht sogar nach Rio oder Kapstadt.
Fremde Länder, Abenteuer. Weg von Mutters Ofen.
Ja, der Arbeiter 2000, der wird wieder ein Nomade sein
Mit Sack und Pack und Campingwagen zieht er durch die Welt.
Ein freier Mann für eine gute ARBEIT zieht er meilenweit.

In den achtziger Jahren schrieb der französische Wirtschaftswissenschaftler und Berater Präsident Mitterands Jaques Attali von den Hypernomaden, die in einer neuen Dreiklassengesellschaft die oberste Klasse der erfolgreichen und hochgradig mobilen Elitearbeiter bildeten. Die zweite und ungleich größere Klasse wurde durch die virtuellen Nomaden gebildet, die sich nur virtuell durch den Raum bewegten. Die dritte und größte Klasse aber würde von Infranomaden bevölkert, die von der Mobilität ausgeschlossen seien. Mobilität aber sei die Kerneigenschaft, die über die Qualität der Arbeit und auch über das Gehalt letztlich entscheiden würde.

Der Arbeitsnomade: unterwegs in Raum und Zeit

Das Kennzeichen des Arbeitsnomaden ist also seine räumliche Beweglichkeit. In den siebziger und achtziger Jahren wurde ja auch erstmals über das Phänomen der elektronischen Heimarbeit massiv diskutiert und geforscht. Die Personal-Chefin von Microsoft Deutschland Brigitte Hirl-Höfer hat einmal gesagt: „Flexible Arbeitsmodelle, und da ist Home Office ein wichtiger Bestandteil – sind ein wichtiger Wettbewerbsfaktor. … Home Office verbessert nicht nur die persönliche Work-Life-Balance, sondern auch die bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie“.

Weitere positive Argumente der Befürworter von moderner Heimarbeit sind die erheblichen Kostensenkungspotentiale, wenn man nicht mehr für jeden Mitarbeiter einen Arbeitsplatz vorhalten muss, aber auch die Umweltaspekte: Home Office Worker müssen nicht mehr Tag für Tag ins Büro fahren. Es gibt Studien, die weisen zum Beispiel für Mitarbeiter bei British Telecom beim Wechsel ins Home Office eine um 20 Prozent erhöhte Arbeitsproduktivität ausbei Mitarbeitern der IBM gar um 50 Prozent. Wie mag es da in IBM-Büros heute zugehen …

Dem stehen wichtige Gegenargumente gegenüber: die Produktivität im Unternehmen kann durch Heimarbeitsplätze auch sinken, denn Kreativität entsteht tatsächlich häufig in der dann ja fehlenden Kaffeeküche einer Abteilung, in weniger formalen Team Meeting. Heimarbeit erschwert natürlich auch die Entwicklung einer teambildenden und produktivitätsfördernden Unternehmenskultur. Und Führungsqualifikationen lassen sich nur durch die räumliche Begegnung und durch persönliche Interaktion erwerben. Heimarbeit kann tatsächlich in gemischten Umgebungen für die Beschäftigten ein Hinderungsgrund für Aufstieg und Weiterqualifikation sein.

So gibt es Studien, den zu Folge die Produktivität im Home Office um bis zu 50 Prozent sinkt. Kinder und andere Familienangehörige stören, es kommt zu Konzentrationsdefiziten. Oftmals fehlt es auch an notwendigen Arbeitswerkzeugen, etwa an einer Breitbandanbindung. Dabei scheint es auch erhebliche kulturelle Differenzen im internationalen Vergleich zu geben. So geht eine Studie davon aus, dass Familien in Deutschland signifikant häufer als störend im Home Office empfunden werden, als in Japan: trotz der dort üblichen viel kleineren Wohnungen, der Papierwände und der beengten Wohnverhältnisse.

Wie unterschiedlich sich Heimarbeit, also die klassische Variante mobiler Arbeit – auf die Produktivität und auf die Qualität der Arbeit auswirken können, werden wir später noch zu diskutieren haben. Einstweilen soll es uns erst einmal um die nächste Stufe der Nomadisierung der Arbeit gehen.

Vom Nomaden zum Beduinen – ein Paradigmenwechsel

In den neunziger Jahren sprachen Tsugio Makimoto und David Manners erstmals von digitalen Nomaden und meinten Menschen, die sich nicht mehr auf einen lebenslang sicheren Arbeitsplatz verlassen konnten, sondern die mal hier mal dort als Selbstständige ihre Qualifikationen und ihre Arbeitskraft als Selbstständige anbieten wollen und müssen. Wie bei allen Selbstständigen zeichneten sich diese digitalen Nomaden auch dadurch aus, dass ihre Werkzeuge, also ihr Computer, ihr Telefon, ihnen selbst gehörten. Es ging nun weniger um die räumliche Mobilität, als vielmehr um die geistiger Mobilität, um die Mobilität des Selbstständigen, der sich seine Kunden suchen musst.

Von da zum Begriff des digitalen Beduinen war es dann nur noch ein kleiner Schritt. Der Begriff des Nomaden leitete sich ja vom altgriechischen nomas ab, was so viel bedeutet wie „herumschweifend“. Der Begriff des Beduinen aber stammt vom arabischen bedun, also vom „staatenlosen“. Es geht mehr um Potentiale, um Selbstständigkeit, nicht mehr um Ort und Bewegung. Vielleicht klingt das ein wenig zynisch, aber letztlich ist der digitale Beduine das, was dabei herauskommt, wenn man die Menschen tun lässt, was ihnen Spaß macht. So jedenfalls interpretieren viele digitale Beduinen ihren gesellschaftlichen Status selbst.

Der digitale Beduine als ICH-AG

Digitale Beduinen entledigen sich ihrer Chefs. Sie ziehen aus dem verregneten Deutschland in sonnigere Gefilde und verkaufen sich und ihre Arbeitskraft wann immer sie Lust dazu haben oder Geld benötigen aus dem sonnigen Süden. Nach einer Recherche der digitalen Beduinen der Gruppe SEOintheSUN, die Online-Services von ihrer Homebase – eine Homebase ist das oft zeitlich befristete Basislager des Beduinen – auf Teneriffa anbietet, sind die attraktivsten Länder für digitale Beduinen derzeit Indonesien, Australien, Thailand, Mexiko, Italien, Portugal, die Kanarische Inseln, ferner Amerika, Schweden, Norwegen und Griechenland.

Dabei gibt es die unterschiedlichsten digitalen Beduinen. Ich kenne Hedonisten, die keine Homebase haben, sondern vorzugsweise in Coworking-Spaces arbeiten, also in komplett ausgestatteten Gemeinschaftsbüros, die man stundenweise mieten kann: Stundenhotels für digitale Beduinen, in deren Nähe es die meisten Sterne-Lokale gibt und die ein gelegentlich benutztes Eigenheim in einem österreichischen Gebirgstal hegen und pflegen, das alleine schon von Wohlstand zeugt.

Es gibt auch die „Cult of Less“-Bewegung, deren Anhänger auf möglichst viel Besitz verzichten und die mit wenig mehr als sie tragen können mal hier, mal dort arbeiten. Bekannt geworden ist zum Beispiel Michael Kelly Sutton, der sich mit einem Laptop, einem Kindle, einem Smartphone und zwei externen Festplatten nebst einiger Kleidung zufrieden gab. Diese Minimal-Beduinen leben oft jahrelang im Couchsurfing, also mal hier, mal dort in privaten Gästebetten. Ihr Zentralrechner ist die Cloud, ihr Textsystem kommt von Google, ihr Terminkalender von Doodle, telefoniert wird via Skype, ihre Meetings sind Google Hangouts.

Für diese digitalen Beduinen gilt erst recht, was viele Kritiker heute für „gewöhnliche“ Angestellte anmerken: die Grenze zwischen Arbeits- und Freizeit wird fließend. Sie sind grundsätzlich jederzeit und überall erreichbar: anywhere – anytime – anyone – anyway! Auch ihre berufliche und private Kommunikation geht ineinander über, denn für sie gilt grundsätzlich BYOD: „Bring you own device“.

 

„Bring your own device“ – das Motto der Scheinselbstständigen

Letztlich ist das Setzen der Grenze zwischen Privatem und Beruflichem bei ihnen wie bei modernen Arbeitnehmern mit E-Mail-Postfach auf Smartphone und Tablet eine Machtfrage: Kann es sich der Arbeitnehmer oder der Selbstständige gegenüber Chef oder Kunde leisten nicht erreichbar zu sein? Ist die wechselseitige Durchdringung von Beruf und Freizeit selbstgewählt? Wird es als positiv empfunden, wenn man seine Jobs „nebenher“, neben Erziehungsarbeit, Kochen und Waschen erledigen kann? Oder dominiert der Stress, weil man sich so noch mehr Arbeit in Familie und Beruf zumuten kann?

Letztere Frage muss besonders für die traditionell doppelt arbeitenden Mütter in aller Regel leider mit Ja beantwortet werden. Und auch für viele andere gilt, dass dieser Stress vielleicht als angenehm empfunden wird, aber eben doch Stress ist und Körper und Geist auf Dauer nachhaltig belastet.

Spaß und Stress gehen eine unheilige Messalliance ein, wie die New York Times einmal bemerkte:

“Wir sind so sehr damit beschäftigt, alles im Blick zu behalten, dass wir nicht mehr in der Lage sind, uns ganz auf etwas Bestimmtes zu konzentrieren. Das kann sogar Glücksgefühle erzeugen, insofern, als das ständige Anpingen in uns den Eindruck erweckt, benötigt und erwünscht zu sein. Der Grund, weshalb wir glauben, viele Unterbrechungen unmöglich ignorieren zu können, ist, dass es um Beziehungen geht – irgendjemand, oder irgendetwas, ruft nach uns. Deshalb reagieren wir unterschiedlich auf das Chaos im modernen Geschäftsleben, fühlen uns abwechselnd völlig ausgelaugt und dann wieder total begeistert, wenn wir erfolgreich die Flut eingehender Kommunikationsanforderungen bewältigt haben.“

Heute befürchtet mehr als die Hälfte der Beschäftigten in Deutschland, dass die Grenzen zwischen Beruflichem und Privatem im Home Office verschwinden. Verstärkt werden solche Ängste noch durch die gleichzeitige Durchdringung von Arbeit und Freizeit durch dieselben sozialen Medien. Dabei nimmt man nicht nur die beruflichen Themen und Ärgernisse mit ins Private, sondern auch umgekehrt das Private mit ins Unternehmen. 14% aller Deutschen haben bereits erlebt, dass über sie in sozialen Medien von Kollegen gelästert wurde. Da bilden sich neue Plattformen für das um sich greifende Mobbing. Und die Reichweite und Nachhaltigkeit von Facebook und Twitter ist erheblich größer, als diejenige der Betriebskantine und des örtlichen Friseurladens. Immerhin 7% der Beschäftigten klagen darüber, dass sie über soziale Medien unerwünschte „Avancen“ von Kolleginnen oder Kollegen oder gar Vorgesetzten erhalten.

Die Mitarbeiter werden „social“ – ob sie wollen oder nicht

Die Mitarbeiter werden „social“ am Arbeitsplatz und wissen oft gar nicht mit diesen Medien umzugehen. Sie wissen auch nicht, was sie dürfen und was nicht. Sie sind und bleiben verhaltensunsicher. Der Streß ist schon da, selbst wenn die Nutzung gar nicht stattfindet.

Dabei erwarten immer mehr Arbeitgeber eine aktive Nutzung sozialer Medien „im Sinne des Unternehmens“. Denn sie wissen, dass das Image des modernen Unternehmens ganz wesentlich von den Mitarbeitern bestimmt wird. Facebook, LinkedIn und kununu sind zu den wichtigsten Schaufenstern geworden – nicht nur für B2C-, sondern ebenso für B2B-Unternehmen. Mitarbeiter werden zu wichtigen Markenbotschaftern. Dies gilt für das Image der Marken und erst recht und ganz direkt im Recruiting, also im Wettbewerb der Unternehmen um die „besten Köpfe“.

Teilen und herrschen – die Shared Economy

In der Shared Economy entstehen Werte zunehmend zwischen den Unternehmen und nicht mehr in den Unternehmen. Auch hier beweist sich die gewonnene Relevanz der Zirkulation gegenüber der Produktion. Je mehr Produkte heute austauschbar werden, desto wichtiger werden emotionale Markenwerte, die in Peer Groups wachsen und verfallen. Die Produktempfehlung im Bekanntenkreis und das Verbraucherurteil auf Bewertungsplattformen werden immer wichtiger. Zunehmend wird im Verkauf nicht mehr ein Wert des Produktes realisiert, sondern der Wert der Kundenbeziehung: wie den Kunden hat, gewinnt.

Auch Wissen, Innovation und neue Produkte entstehen immer seltener im Unternehmen sondern per Croud Sourcing außerhalb, oft in der Kommunikation zwischen Unternehmen und Kunden. Nicht mehr derjenige, der sein Wissen schützt gewinnt, sondern derjenige, der Wissen teilt. Auch deshalb wächst der Wert der Mitarbeiter für Unternehmen – und damit der Stress für Mitarbeiter, die rund um die Uhr nicht nur Mitarbeiter oder (Schein-)Selbstständige Lieferanten sind, sondern auch Kunde 2.0.

Arbeit 2.0 – Fluch für die einen, Segen für die anderen

Ehe wir aber über den Kunden 2.0 reden, muss entschieden darauf hingewiesen werden, dass sich die Chancen der Arbeit 2.0 – egal ob als freiberufliche oder als fest angestellte digitaler Beduinen – nur für gut qualifizierte und leistungsstarke Arbeitskräfte auftun werden. Die Marginalisierung von Geringqualifizierten wird so nicht behoben werden.

Wer sozialen Ausgleich will, wer eine solidarische Gesellschaft realisieren will, der muss einen Arbeitsmarkt für Geringqualifizierte, für körperlich und psychisch gering leistungsfähige, für Langzeitarbeitslose und besonders für Jugendliche ohne abgeschlossene Ausbildung schaffen.

Dies ist eine Aufgabe der Wirtschaftspolitik, nicht der Technologiepolitik. Dies wird auch nur durch ein breites Maßnahmenbündel zu bewerkstelligen sein: durch die Verhinderung einer Deindustrialisierung, durch die aktive Förderung einfacher industrieller und handwerklicher Produktionsformen und Arbeiten, durch den öffentlichen Ausbau einfacher Dienstleistungen, kurz: durch aktive Arbeitsmarktpolitik.

Die Digitalisierung der Arbeit löst nicht die Probleme auseinanderdriftender Lebensmodelle und verhindert nicht das Anwachsen prekärer Arbeits- und Lebenswelten.

Und auch soziale Sicherungssysteme werden für die digitalen Beduinen nicht an Relevanz verlieren. Wir müssen uns auf sehr flexible und individualisierte Arbeitsbeziehungen einlassen und darauf, dass hier einstmals stabile qualifizierte Arbeitsbeziehungen ersetzt werden. Wir müssen uns damit abfinden, dass der gewerkschaftliche Organisationsgrad und der Wunsch nach geregelten Beziehungen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer rückläufig sein wird. Die hochqualifizierte Facharbeiterschaft als Rückgrat der Gewerkschaftsbewegung und der Sozialdemokratie befindet sich strukturell in Auflösung, die sozialen Probleme leider nicht. Es bleibt zu hoffen, dass der Blick auf die Herausforderungen für die digitalen Beduinen nicht den Blick verstellt für jene, die an diesen Entwicklungen nicht teilhaben werden.

In ein paar Tagen wird dieser Beitrag hier auf Czyslansky seine Fortsetzung finden. Dann geht es um die Perspektive des Kunden und Verbrauchers, also um Kunde 2.0.

 

Eine Antwort

  1. Wenn,wie durchaus zu befürchten steht, Festanstallung im Zuge von Arbeit 2.0 zum Auslaufmodell wird und wir zu einem Volk von Freiberuflern mutieren, stellt sich für mich die sehr spannende Frage: Wer vertritt dann die Interessen der Beschäftigten? Gewerkschaften, etwa? Oder vielleicht doch eher Facebook, die sich dann sozusagen zur „Gewerkschaft 2.0“ meldet? Immerhin: Wenn sich genpgend FB-User über einen unfairen Arbeit/Auftraggeber aufregen, könnte der entstehende Shitstorm eine ähnliche oder sogar noch größere Wirkung entfalten, als wenn wir alle mit Plakaten vor der Firmenzentrale auf und ab marschieren.

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