Wie konnte das passieren? Google hat es doch schon lange gewusst, was sich da in den Finanzmärkten der Welt zusammenbraut. Wer nach „mortgage crisis“ sucht, findet Artikel aus den Jahren 2003, in denen bereits vor dem Platzen der Immobilien-Blase in den USA gewarnt wurden. Es kann also keiner behaupten, er habe es nicht gewusst.
Das Internet war Schuld an dem globalen Zusammenbruch der Finanzmärkte. 2016 kann es Teil der Lösung sein.
Eigentlich müsste das Internet wie ein Frühwarnsystem funktionieren – tut es aber offensichtlich nicht. Das kann nicht daran liegen, dass Banker nicht surfen. Wohl aber, so scheint es, schauen sie sich die falschen Seiten an. Wer immer nur wie ein Kaninchen die Schlange auf die Aktienkurse bei Bloomberg starrt, dem geht über kurz oder lang die Übersicht übers große Ganze verloren.
Das globale Finanzsystem ist durch die Technologie der New Economy in atemberaubendem Tempo beschleunigt worden. Das Problem ist nur: Die weltweiten Regulierungssysteme und Bürokratien hängen immer noch im Analogzeitalter fest. Jeder Amateur-Investor mit einem Online-Maklerkonto und einem Breitband-Anschluss kann heute ein Global Player sein. Aber er tut es am Rande oder sogar außerhalb des abgesteckten Spielfelds des klassischen Finanzmarkts. Früher rief man seinen Broker an, um eine Order zu platzieren. Heute Triviale mutieren Konversationen per Blackberry plötzlich zu Millionen-Transaktionen. Sie möchten einen Credit Swap von $100 Millionen aufsetzen? Ein Instant Message an einen Hedge Fund auf den Caymans genügt. Alles völlig unbeaufsichtigt, unkontrolliert, aber am Schluss mit einem netten Smiley signiert. Kein Wunder, dass unser altes Finanzsystem nicht mehr funktioniert.
Alan Greenspan, der große amerikanische Zentralbanker, war es, der davon schwärmte, das Internet ermögliche es der Finanzwelt, „Risiko zu verteilen“ und „komplexe Finanzprodukte zu schaffen, zu bewerten und zu handeln“. Dass aber selbst gestandene Finanzprofis von der Flut der Online-Informationen überschwemmt werden, hat er nicht bedacht. Das Ergebnis: Statt eigenverantwortlich zu handeln, folgen sie ihren Herdeninstinkt – notfalls in den Abgrund. Das scheint Greenspan übrigens durchaus erkannt, zumindest aber geahnt zu haben, als er vor einem Kongreßausschuss einmal sinnierte: „Unternehmen scheinen gleichmäßiger als früher zu reagieren. Innovationen werden nicht nur früher, sondern auch synchroner eingeführt. Der Wandel wird so in zunehmend kürzere Zeitrahmen gepreßt.” (“Corporations appear to be reacting more uniformly then before. Adaptation is occurring not only more early, but also more synchronously that ever. Change is being compressed into increasingly shorter time frames.“)
Das Internet ist also schuld an der globalen Finanzkrise, weil sie systematische Verfehlungen im globalen Finanzgefüge mit „Cyberspeed“, im Internet-Tempo, wie ein Pestvirus rund um den Globus verbreitet hat. Das ist die schlechte Nachricht. Die gute: Das Internet hat es Zentralbanken, Wirtschaftspolitikern und Finanzexperten ermöglicht, schneller und konformer als je zuvor auf dem drohenden Kollaps des Systems zu reagieren. „Es ist so, als hätten sie alle in einem Raum gesessen, sich gegenseitig in die Bücher geschaut und in enger Abstimmung gehandelt“, wundert sich der US-Unternehmensberater Zachary Karabell. Und auch das Magazin „Newsweek“ kam zu dem gleichen Schluss: „Die Werkzeuge, die zur Krise geführt haben, haben die Reaktion darauf ermöglicht.“ Nationalbanken, Finanzministerien und Schatzkanzler in den wichtigsten Industrienationen hätten zwar unabhängig voneinander gehandelt, aber Informationen über Bilanzen, Liquiditätsengpässe und versteckte Risiken „per Mausklick und mit den gleichen Modellen ausgetauscht“. Dadurch wären sie besser in der Lage gewesen, sich abzustimmen, als wenn sie tagelang irgendwo zusammen in einem Konferenzraum gesessen hätten.
Es gibt Lehren zu ziehen aus der ersten globalen Finanzkrise des Internet-Zeitalters. Wir brauchen Online-Systeme, die in der Lage sind, selbst komplexeste Finanzinformationen so darzustellen, dass sie ein Mensch verstehen kann. Der Venturekapitalist Paul Kedrosky fordert von den Internet-Entwicklern eine Art Armaturenbrett mit Knöpfen und Zeigern, die das komplexe Geschehen in den Kreditmärkten, bei Derivatives und Aktien auf einen Blick überschaubar macht. Statt endloser Tabellen wünscht er sich einfache Infografiken mit Säulen oder Balken in Ampelfarben (grün ist gut, rot ist schlecht), die Finanzmanager aus ihrem Dämmerschlaf aufschrecken und frühzeitig zum Gegenlenken anstiften sollen.
Ein solches System müsste aber auch Einblick geben in die bislang verborgenen Finanzströme, die per Handy und SMS um den Globus schwappen. Die Finanzaufsichtsbehörden müssen den Wildwuchs des „rogue trading“ per Instant Messaging und anderer Kommunikationssysteme in den Griff bekommen, die heute noch außerhalb jeglicher Compliance-Aufsicht stehen. Eine solche Aufgabe übersteigt die technischen, aber auch die organisatorischen und gesetzlichen Grenzen einzelner Nationalstaaten. Welche internationale Institution dafür am besten geeignet ist, darüber wird noch viel gestritten werden. Womöglich wird auch hier die Welthandelsorganisation am Ende als der geeignetste Kandidat herauskommen – zumal sich gerade ein weltpolitischer Konsens abzuzeichnen scheint, die WTO zu einer globalen Finanzaufsichtsbehörde auszubauen.
Und wir müssen Systeme schaffen, die Händler besser überwachen und Transparenz im Markt schaffen – damit wir nicht wieder auf dem falschen Fuß erwischt werden. Das ist einfacher, als es zunächst klingt, denn jede Finanztransaktion läuft heute über Computernetze. Und es gibt geeignete Systeme, um zumindest innerhalb von Firmennetzwerken und Trading Systemen festzuhalten, wer wann was getan hat. Das Internet vergisst nichts, und nichts lässt sich auf Dauer geheim halten. Das ist die erfreuliche Seite der neuen Transparenz, die wir ansonsten meist nur als Bedrohung unseres Privaten wahrnehmen.
Das Internet könnte der Schlüssel zur Lösung der gegenwärtigen Finanzkrise sein, und sie kann helfen dafür zu sorgen, dass so etwas nie wieder vorkommen kann. Das jedenfalls wollen wir hoffen. Es hat uns ja schließlich auch den ganzen Ärger eingebrockt.
Eine Antwort
Meine Rede: die moderne Technik bietet der Menschheit ein enormes Potential – in jeder Richtung. Wer die Segnungen dieser Entwicklung dauerhaft nutzen will, muss aktiv die Leute sankitonieren, welche sich damit bereichern wollen, sonst gerät das ganzs System in Misskredit und niemand hat mehr etwas davon. Das erfordert zweierlei: die Unterscheidung, was verboten und was erlaubt ist, muss zeitnah nachgezogen werden und Verstöße müssen wirksam bestraft werden. Nebenbemerkung: wir müssen auch drüber nachdenken, wo wir die Trennlinie zwischen „strohdumm“ und „zu blöd, um einen Rechner besitzen zu dürfen“ ziehen sollen.