Orwell lässt grüßen!
Orwell lässt grüßen!

Erinnern Sie sich an die drei Slogans aus George Orwells Roman „1984“? Sie lauteten:

KRIEG IST FRIEDEN („war is peace“)

FREIHEIT IST SKLAVEREI („freedom is slavery“)

UNWISSEN IST STÄRKE (ignorance is strength)

Ich lese gerade ein außerordentlich spannendes neues Buch des Amerikaners Dave Eggers namens „The Circle“, und auch dort finden sich drei Slogans, die mir ähnliche Schauer den Rücken runterjagen wie die aus „1984“, nämlich:

SHARING IS CARING

SECRETS ARE LIES

PRIVACY IS THEFT

Es geht in dem Technothriller um eine riesige Internetfirma, eine Art Fusion von Facebook, Twitter und Google, die sich „The Circle“ nennt und die inzwischen von jedem als Tor zum Internet verwendet wird. The Circle weiß alles über uns: Wer wir sind, wo wir sind und was wir wollen. Die Firma hat überall auf der Welt winzige versteckte Kameras installiert und kann uns deshalb innerhalb von wenigen Minuten finden, egal wo wir uns versteckt halten. Sie rechtfertigt das damit, dass sich so die Kriminalitätsraten senken lassen. Babys bekommen nach der Geburt einen RFID-Chip implantiert um Kindesentführungen zu verhindern. Und Politiker werden von The Circle aufgefordert, jederzeit eine Webcam bei sich zu tragen; wer sich weigert, der wird automatisch verdächtigt, krumme Touren zu drehen.

In einer Rede vor seinen Mitarbeitern sagt einer der Circle-Chefs: „Wir stehen am Anfang einer zweiten Aufklärung, eine Ära, in der wir nicht mehr zulassen werden, dass die Gedanken, Handlungen, Leistungen und Lerninhalte einer Mehrzahl der Menschen einfach versickert wie aus einem löcherigen Eimer.“ Wenn es keine Geheimnisse mehr gibt, so seine Logik, dann wird das die Menschen zwingen, sich stets anständig und ehrlich zu verhalten.

Science Fiction? Ich weiß nicht so recht. Immerhin hat der ehemalige Google-Chef Eric Schmidt ja einmal gesagt: „Wenn es etwas gibt, von dem Sie nicht wollen, dass es irgendjemand erfährt, sollten Sie es vielleicht ohnehin nicht tun.“

In Wirklichkeit denkt Eggers natürlich nur Dinge zu Ende, die sich ohnehin schon abzeichnen oder schon längst Wirklichkeit sind: Das NSA liest unsere Mails mit, ab November will Google unsere Namen und Fotos in Online-Anzeigen  verwenden (so genannte “shared endorsements“), Facebook hat seine Geschäftsbedingungen einseitig verändert und erlaubt es jedem, unsere Zeitlinien anzuschauen – früher konnte man das blockieren.

In unserem neuen Buch „Digitale Aufklärung – Warum uns das Internet klüger macht“ sagen Ossi Urchs und ich zwar auch das Ende der Privatheit voraus, stellen aber gleichzeitig zwei zentrale Kategorien der Zweiten Aufklärung zur Diskussion, nämlich Offenheit und Transparenz. Beide sind in einer vernetzten Gesellschaft wichtige Werte an sich, aber sie sind keineswegs identisch: Transparenz und Offenheit. Ein Prozess, ob in der Wirtschaft oder in der Politik, ist dann „transparent“, wenn er für die Betroffenen nachvollziehbar, also ohne geheime Abstimmungen in irgendwelchen verrauchten Hinterzimmern zustande gekommen ist. Die Grundlagen von Entscheidungen müssen ebenso transparent sein wie die Ziele, die damit verfolgt werden. Offen sind Systeme dann, wenn sie frei zugänglich  sind und es jedermann gestattet ist, sie kreativ und produktiv zu nutzen.

Sicher, wenn man einen Angstroman schreiben will (übrigens ein sehr guter!), dann kann man diese Begriffe auch bis zur Unkenntlichkeit korrumpieren. Und ja, es besteht die Gefahr, dass die Entwicklung tatsächlich in diese Richtung geht. Nur wäre das das Gegenteil von Aufklärung.

In unserem Buch rufen Ossi und ich zu einem neuen Denken auf, ähnlich wie es Kant vor 200 Jahren mit seiner Mahnung tat: „Sapere aude“ – „wage, dich deines Verstandes zu bedienen“. Der CEO von The Circle ist, wie Eric Schmidt, in alten Denkschemata verhaftet, sein Kopf kommt im wahrsten Sinn des Wortes nicht mehr mit. Wir müssen uns vor ihnen in Acht nehmen – sonst sind wir eines Tages wirklich im ewigen Kreisverkehr verfangen.

Eine Antwort

  1. Schöner, Artikel, Tim. Allerdings sollte man noch deutlicher machen, dass Eggers genau das Gegenteil von dem beschreibt, was wir fordern: Er kehrt allgemein geteilte Werte in ihr Gegenteil um („Privacy ist theft“) und er hält diese Entwicklung auch noch für unvermeidlich. „Sapere Aude!“ ist ihm sicher fremd. Dagegen fordern wir ja eine gesellschaftliche Debatte über das Denken und die Werte der digitalen und vernetzten Gesellschaft.

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