Christian Y. Schmidt – Der letzte Huelsenbeck, erschienen im Mai 2018 bei Rowohlt. Ein Buch für Psychotherapeuten und Psychotherapierte. Und für Männer, die in den siebziger Jahren mehr oder weniger erwachsen gemacht und dann von Psychotherapeuten nicht rechtzeitig entdeckt wurden. Ein irres Buch über Irre, das beständig den schmalen Grat zwischen Irrsein und Normalorealo knapp verpasst.
Die siebziger Jahre werden als das große Zeitalter des Neo-Dadaismus vorgestellt und das ist gar nicht mal so falsch. Diejenigen, die in den späten fünfziger oder frühen sechziger Jahren geboren wurden, waren ja nicht nur enttäuscht von ihren Nazi-Großvätern und Wirtschaftswundervätern, sondern auch von ihren älteren 68er Geschwistern, die schon im langen Marsch verschwunden waren. Sie konnten an kein Wertesystem andocken und schwirrten wie die Dadaisten um Kurt Schwitters und Richard Huelsenbeck halt- und gestaltlos durch Traum und Zeit, ehe sie sich ohne Umweg über die Institutionen in den achtziger Jahren etablieren konnten. Dietmar Dath schreibt in der F.A.Z.:
„Aus jungen Post- und Meta-Dadamenschen wurden Werbetrottel, grüne Bundestagsabgeordnete, Kinderpsychologinnen oder Buchbesprecher, mehr oder weniger korrupt, kaputt und sanft gemeingefährlich wie alle anderen, die früher als sie ihren Frieden mit dem normalen Mist gemacht hatten.“ Einige wurden aber auch richtig verrückt mit Attest und Krankenschein. Zu diesen gehört der Protagonist unseres Buches, Richard Huelsenbeck der Zweite alias Daniel S. Dieser Daniel war Mitglied einer Pseudo-Künstlergruppe, deren Mitglieder sich nach berühmten Dadaisten benannten. Daniel ist der letzte Huelsenbeck.
Der letzte Huelsenbeck ist 105. Und 528.
Insofern ist der Roman ein lehrreiches psychologisches Sachbuch, in dem man allerhand Aufschlussreiches über die wichtigsten „ICD-Schlüssel“ erfährt: „F12 und F15, psychische Störungen durch Cannabinoide oder andere Stimulanzien … F20, Schizophrenie, und F22, anhaltende wahnhafte Störungen, hier speziell religiöser Wahn und Beziehungswahn … F41, die klassische Panikstörung, und F60, spezifische Persönlichkeitsstörung … F31 … eine bipolare affektive Störung.“ (K)ein Wunder, dass Daniel in der Psychiatrie empört ausruft, wenn er noch lange in der Geschlossenen bleiben müsse, würde er verrückt werden.
Die siebziger Jahre waren nun mal eine psychedelische Zeit. Ich werde nie verstehen, wie der Verlag NICHT auf die Idee kommen konnte, den Bucheinband in chinesischlackmusorange zu gestalten. Immerhin hat er sich für das Gelb und Blau der FDP entschieden.
Daniel S., der letzte Huelsenbeck, erwähnt einmal, dass Eloise von Barry Ryan seine erste Single gewesen sei. Dieser Brunftschrei gehörte natürlich auch zu meinen ersten drei Platten. Das war damals so. Da stimmte beim Cover sogar die Farbe. Überhaupt wird sich jeder, für den die siebziger Jahre für das künftige Hören und Lesen stilbildend waren schnell im Roman zurecht finden. Castaneda haben wir doch auch alle verschlungen. Eben.
Daniel wandert über mehr als 300 Seiten auf verschiedenen Realitäts- und Irrealitätsebenen hin und her. Das heißt: eigentlich lässt er sich treiben. Er glaubt ebenso naiv wie selbstverliebt grundsätzlich erstmal jedem alles. Auch sich selbst. Und so schafft er eine Parallelwelt nach der anderen. Er hat in den USA ein Mädchen in den Tod getrieben, war nie in den USA, bildet Amerika im Berliner U-Bahn-Netz ab, wird von missgebildeten Kindern verfolgt und von Raben begleitet. Nein, man kann und braucht die Geschichte nicht zu erzählen. Das ist alles viel zu wunderbar wirr. Ich weiß ja auch gar nicht, was daran stimmt. Der Autor auch nicht.
Die alternativen Fakten des Ronald Reagan
Eine der zahlreichen auftretenden Psychologinnen erzählt auf Seite 373 eine hübsche kleine Geschichte von Ronald Reagen – dem Trump der siebziger und achtzigerJahre:
„Anfang der Achtziger bekam Reagan Besuch vom damaligen israelischen Premierminister Schamir. Reagan erzählt ihm bei dieser Gelegenheit, er habe als Mitglied des Filmcorps der US-Armee Filmaufnahmen von der Befreiung verschiedener Konzentrationslager gemacht. … In Wirklichkeit war er aber bei überhaupt keiner KZ-Befreiung dabei gewesen. Reagan war während des Zweiten Weltkriegs nicht ein Mal in Europa. Er hat sich die ganze Zeit in Kalifornien aufgehalten … Reagan hat während seiner Zeit als Captain des Filmcorps … so viel Filmmaterial von KZ-Befreiungen gesehen, dass er irgendwann überzeugt war, tatsächlich dort gewesen zu sein. Und je öfter er diese Geschichte erzählt hat, desto wahrer wurde sie für ihn.“
Die Wahrheit ist doch reichlich relativ. Alternativ facts bestimmen nicht nur Kopf und Pressestelle des heutigen US-Präsidenten. Das ganze Buch von Christian Y. Schmidt besteht aus alternative facts. Und der Dadaismus bestand ja auch nur aus alternativ facts. Und selbstverständlich sind alle Fakten streng ich-bezogen. Wenn in China ein Sack Reis umfällt, bekommt das Ich Zahnschmerzen. Mit ausgetüftelten kabbalistischen Zahlenspielertricks bekommt alles einen zweiten Sinn hinter den Spiegeln. Deshalb auch lassen sich mit den gleichen Zahlen beliebige Wirklichkeiten begründen.
Stellenweise ist sich der Protagonist unserer Geschichte(n) gar nicht mehr sicher, ob es die siebziger Jahre und vor allem das Jahr 1978 – das Jahr des vermeintlichen Mordes an einer jungen Frau in Amerika – je gegeben hat. Da zumindest kann ich ihn und Euch beruhigen: es gab die Siebziger. Und es gab auch das Jahr 1978 wirklich. Da hab ich meine Abiturprüfung in Kunsterziehung bestanden. Selbst gewähltes Schwerpunktthema – Ihr ahnt es – Dadaismus. Aber vielleicht ist das auch ein Fake.
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