Oral History – während meines Studiums in den frühen 80iger Jahren war das ein absoluter Hype: Geschichte aus Geschichten lernen, aus individueller Erfahrung, nicht aus spröden Fakten und Zahlentabellen. Nicht Drei – drei – drei, bei Issos Keilerei, sondern Vom Russen, der mit mir seine letzte Zigarette teilte. Oder für Nicht-Leser: Guido Knopp, aber ohne Zeitzeuge in leichter Untersicht vor ewig schwarzem Hintergrund.
Und ich höre noch immer gerne alten Leuten zu, wenn sie von früher erzählen und ich tue das als Digisaurier ja selbst auch ab und an. Ich mag zwar keine Historienromane (Die Blutspur im Rohbau des Taj Mahal), aber spannende Lebensberichte mag ich sehr. Und um einen solchen geht es bei
Manfred Jannot: Einnerungen an das 20. Jahrhundert.
Ich kenne Manfred Jannot nicht, aber ich kenne – und schätze – seinen Sohn Thomas. Der hat mich nicht um eine Besprechung gebeten, aber unerbetene Besprechungen haben allemal das Anrecht auf unerbittliche Ehrlichkeit. Und ich finde dieses Buch ehrlich gut! Warum? Deshalb: (toller Cliff Hanger)
Manfred Jannot ist kein Schriftsteller
Und die Text-Göttin in meiner Agentur – Freunde wissen von dem ich rede – würde ihm kaum einen Satz so durchgehen lassen, wie er ihn hier niedergeschrieben hat. Aus diesem Buch spricht kein großer Schriftsteller, sondern das wahre Leben. So hätte mein Vater geschrieben, wenn er geschrieben hätte. Und er hätte stolz drauf sein können.
Der Mann erzählt einfach sein Leben. Und er erzählt sein einfaches Leben. Und das in einer bewundernswerten Ehrlichkeit. Er erzählt sein (Über-)Leben in Zeiten von Faschismus und Arbeiter-und-Bauern-Deutschland. Er berichtet von seiner Kindheit im Dorf, von Armut und von der Gier nach Leben, von Salzheringen im Kramerladen und vom Hund, der Senta hieß (genau wie der größte Mischlingsrüde in der Siedlung, in der ich aufgewachsen wurde). Ein männlicher Anna Wimschneider vom Chemiewerk, bei dessen Lektüre man ständig über die eigenen kleinbürgerlichen Kindheitserinnerungen stolpert.
Er erzählt aber auch davon, wie sich zwei politische und gesellschaftliche Systeme im Alltag der „kleinen Leute“ (was für ein doofer Begriff) widerspiegelten. Von den ersten braunen Hemden im Dorf, von Nazi-Barbarei und Soldatenschicksalen. Und vom Wiederaufbau in der jungen DDR, die sich im Dorfalltag weniger von den 50iger Jahren Westdeutschlands unterschied, als einen das die Geschichtsbücher immer glauben machen wollen. Die großen Unterschiede gab es immer oben, und oben war für die unten immer verdammt weit weg.
Unten ging es um Gurken, oben um Sozialismus oder Wirtschaftswunder.
Der Autor hatte Glück und war noch zu jung um als Soldat für Hitlerdeutschland Grabstellen in der russischen Tundra zu erobern. Er war noch nicht mal in der HJ und also – im Gegensatz zu meinem Vater – zu jung um als Werwolf ins Feuer geschickt zu werden.
Stattdessen durfte er sich nach Kriegsende an den bunten Kaugummis der ersten Neger im Dorf erfreuen. Kurz darauf brachen alle ökonomischen Phasen des jungen Staatssozialismus über ihn herein: die Bodenreform, die Landlose zu Kleinbauern machte, die Kollektivierung, die Kleinbauern zu LPG-Proleten machte, das Organisieren von Lebensmitteln in den ersten Jahren und das Organisieren von Motorrädern in den zweiten Jahren. Er erzählt vom sozialistischen Gang, die die Dinge eben damals an der offiziellen Politik und Ideologie vorbei im wirklichen Leben gingen.
Alle Systemvergleiche, die wir als junge Soziologie-Studenten in den frühen Achtzigern in Schwabing durchführten waren so witzlos und erkenntnisarm im Vergleich zu einem Parallel-Lesen von Jannot und – sagen wir – Bölls Brot der frühen Jahre.
In der DDR geht Manfred Jannot einen eigensinnigen Weg, aber sicherlich nicht den Weg eines Dissidenten. Er wechselt mehrfach Beruf und Frau, arbeitet sich langsam hoch, wurschtelt sich eben so durch, macht manches richtig und manches auch richtig falsch. Aber er versucht immer irgendwie anständig zu bleiben. Mit einer solchen Gesinnung bleibt man – mit etwas Glück – ein einfacher Mensch. Karriere kann man so nicht machen, man geht aber auch nicht unter, sondern genießt sein kleines Glück. Der Autor schafft sich seine kleinen Freiräume, seine kleinen Fluchten außerhalb der verordneten Politik.
Es steckt verdammt viel Durchschnitt und verdammt viel Anstand in dieser Lebensgeschichte, die mir manchmal Vorbild und manchmal Abschreckung sein will. Im Ganzen aber sympathisiere ich heftig mit dem Autor, der sein Leben lang versucht hat einfach nur anständig zu bleiben. Es ist ihm bei allen Schwierigkeiten und teils selbst gemachten und teils verordneten Krisen weitgehend gelungen.
Nein, das ist keine Ratgeberlektüre, kein So lebst du richtig. Es gibt noch immer kein richtiges Leben im falschen. Aber es ist ein Lehrbuch, wie man sich im Kleinen gegen das große Falsche wappnen kann. Und es macht Spaß zu lesen.
Danke fürs Schreiben.
—
Manfred Jannot: Erinnerungen an das 20. Jahrhundert. ISBN 978-3-946487-08-1. Erhältlich zum Beispiel bei Books On Demand.
Das ist sehr schön, ich habe die Lektüre ganz ähnlich empfunden, und mir geht die heimliche Größe dieses Buches immer noch nach. Den Schriftsteller in Manfred Jannot würde ich allerdings nicht unterschätzen. Das alles kommt wie harmlos daher, hat aber eine feine Prosodie und besteht eine zuverlässige Probe: Es lässt sich auch laut lesen.
Es ist Jannots Verdienst, anders als die übliche Geschichts(be)schreibung, deren Szenerie regelmäßig in den großen Städten angesiedelt ist (z.B. jetzt wieder in der ARD-Serie ‚Babylon Berlin‘), die Verhältnisse in der Arbeiterschaft und den bäuerlichen Lebensumständen der Provinz anschaulich darzustellen. Dort gab es eben das Plumpsklo auf dem Hof und man hatte bestenfalls ein einziges Kleid und einen Anzug ‚für gut‘. Die Kinder mussten Löwenzahn für die Kaninchen und Pferdeäpfel zum Düngen der Bohnen und Kartoffeln im kleinen Nutzgarten sammeln. Dies war überlebenswichtig in der Zeit des Hungers und der allgemeinen Not der Wirtschaftskrise bis in die 30er Jahre hinein. Kein Wunder, dass viele Menschen – als sich die Verhältnisse allmählich besserten – den Herrn mit dem Schurrbart wie einen Erlöser empfanden und ihn – zumindest anfänglich – freiwillig wählten, bis dann die braunen Horden der Freiwilligkeit ein Ende machten. So haben es auch mir meine Eltern berichtet.
In den Verhältnissen der Kriegs- und Nachkriegszeit, wie sie Jannot beschreibt, habe ich mich – wenngleich einige Jahre jünger – direkt wiedergefunden. Auch meine Familie überstand die Kriegszeit ‚auf dem Lande‘ und zog dann in die Kleinstadt der besseren Schul- und Lebensmöglichkeiten wegen. ‚Familie‘ ist dabei ein Euphemismus. Es waren Notgemeinschaften von mehreren Rumpffamilien und Einzelpersonen. Die Männer waren im Krieg und – wie auch mein Vater – oft noch sehr lange in Kriegsgefangenschaft, sofern sie überhaupt zurückkamen.
Die Wohnverhältnisse waren bei mehr als 10 Millionen Flüchtlingen katastrophal. Alles was man hatte, Möbel, Geräte, der ‚gute Anzug‘, das Fahrrad, Geschirr, eine Uhr oder eine Einkaufstasche, stammte aus der Vorkriegszeit. Wenn etwas kaputt ging, war das eine Katastrophe. Und viele hatten nicht einmal diese Habseligkeiten, weil sie auf der Flucht bestenfalls persönliche Dokumente und ein paar Erinnerungsstücke hatten mitnehmen können.
Angesichts dieser Verhältnisse, wie sie auch Jannot sehr anschaulich beschreibt, kann man die Klage über die vielen Menschen, die heute ‚unter der Armutsgrenze‘ (das eigentliche Problem dabei ist die Definition von Armut) leben, nur als Jammern auf hohem Niveau bezeichnen. Wenn junge Leute es heute besonders schick finden, durchlöcherte Hosen zu tragen, sollten sie darüber nachdenken, dass dies damals aus purer Not geschah und man sich dafür schämte.
Jannots Buch wird seine Leserschaft vor allem bei denjenigen finden, die sich an die Überwindung dieser Not aus eigenem Erleben oder zumindest aus ihren Nachwirkungen bis weit in die 60er Jahre erinnern. Zu empfehlen wäre es aber vor allem jüngeren Generationen als Mahnung, welches Ende nationalistische und populistische Bewegungen (auch der Nationalsozialismus war eine solche!) nehmen können, wenn man ihnen nicht rechtzeitig in Wort und Wahl Einhalt gebietet.
Sorry für den langen Text; aber Jannots Buch lohnt eine intensive Beschäftigung. Man kann es nur empfehlen.