Robert Antelme Das Menschengeschlecht

Buchbesprechung: Robert Antelme: Das Menschengeschlecht

Niemals hat mich ein Buch mehr verstört, niemals mehr berührt, als dieses: „Das Menschengeschlecht“ von Robert Antelme. Ich habe das Tagebuch der Anne Frank gelesen, die Erinnerungen von Reich-Ranicki, viele Bücher über die Konzentrationslager der Nazis und natürlich auch den großen Alexander Solschenizyn. Und Solschenizyn wird sicherlich zu recht bewundert für seine detaillierten und eindrucksvollen Schilderungen des Lebens im Gulag. Niemand hat das Leben im Lager mit größerer schriftstellerischer Akkuratesse beschrieben, als der russische Großschriftsteller. Und doch halte ich das Buch von Robert Antelme für wichtiger. Um was geht es?

Ein Augenzeugenbericht aus einem Arbeitslager, Todesmarsch und KZ

Das Anmeldeformular von Robert Antelme als Gefangener im nationalsozialistischen Konzentrationslager Buchenwald (Quelle: Arolsen Archives – Arolsen Archives – International Center on Nazi Persecution www.arolsen-archives.org)

Robert Antelme war Mitglied der Resistence, als er im Juni 1944 in Paris von der Gestapo gefangen genommen wurde. Er wurde erst nach Fresne verschleppt, anschließend nach Buchenwald und weiter ins Arbeitslager nach Gandersheim in Niedersachsen. Dieses Lager war ein Außenlager des KZ Buchenwald. Die Häftlinge mussten dort unter unmenschlichen Bedingungen Flugzeugteile für Heinkel herstellen. 

In Gandersheim war Antelme von September 1944 bis April 1945 interniert.

Das Buch beschreibt überwiegend seine Zeit in Gandersheim. Von dort wurde er erst am 4. April 1945 evakuiert. Da standen die amerikanischen Befreier schon 30 Kilometer vor Gandersheim und er rechnete stündlich mit seiner Befreiung. Die SS aber schickte ihn zusammen mit den anderen Gefangenen auf einen zehntägigen Todesmarsch quer durch den Harz bis nach Bitterfeld, immer auf der Flucht vor den herannahenden amerikanischen Truppen. 

Viele Häftlinge haben diesen Marsch nicht überlebt. Wer in Bitterfeld ankam, musste dort am 14. April einen Zug besteigen und wurde auf einer nochmal knapp zweiwöchigen Irrfahrt auf zahlreichen Umwegen ins Konzentrationslager Dachau befördert, das sie am 27. April erreichten. 

Erst dort erlebte Antelme am 29. April 1945 zusammen mit 32.000 anderen Häftlingen seine Befreiung.

In Dachau war Antelme gerade einmal zwei Tage als KZ-Gefangener. Insofern ist es recht irreführend, wenn Ingeborg Waldinger in der Neuen Züricher Zeitung das Buch als „Bericht aus dem KZ Dachau“ beschreibt. Allerdings traf er im befreiten Dachau wohl einen berühmten Landsmann, den er aus seiner Zeit in der Resistance kannte: den späteren französischen Staatspräsidenten François Mitterand.

Vom Verschwinden der Menschlichkeit

Es gibt viele Bericht aus Konzentrationslagern, viele entsetzliche Leidensberichte von Zwangsarbeit, Hunger und Folter. Was das Buch aber in meinen Augen wirklich einzigartig macht ist die brutal-naturalistische Schilderung der Entwicklung des langsamen Verfalls der Persönlichkeit der Gefangenen. Dabei schildert er nicht nur schonungslos die eigene Degeneration, sondern beobachtet diesen Niedergang auch bei seinen Mitgefangenen. Dabei zeichnet er die Unterschiede zwischen den verschiedenen Gruppen von Gefangenen exagt nach, zwischen den „Politischen“, den „Kriminellen“, den „Kirchlichen“, den „Kapos“, den „Aufsehern“ und den unterschiedlichen Nationalitäten mit ihren unterschiedlichen Erfahrungen und Betroffenheiten im Krieg.

Er erklärt den Terror als Gleichmacher und „Ungleichmacher“. Er zeigt auf, wie die „Politischen“ mit wenigen Ausnahmen ihren Stolz in der Verelendung verlieren und wie einige Gefangene in der Funktion von Kapos und Aufsehern Schritt für Schritt zu Mittätern und Schergen der SS werden. Und indem er deren Entwicklung und Entmenschlichung beschreibt, belässt er es nicht einfach bei der Verurteilung des Verrats, sondern empfindet noch im Totschlag des Kapos Empathie für dessen Entmenschlichung. Er weiß jederzeit, dass dieser grausame Täter, der als Mitgefangener gegenüber anderen Gefangenen zum Mörder wurde, selbst ein Opfer des SS-Regimes ist, dass seine Entmenschlichung selbst das Ergebnis der Barbarei ist. Er zeigt wie auf allen Ebenen des KZ-Systems sich die Grenzen zwischen Gut und Böse laufend verwischen. Er schildert wie die untersten Gefangenen noch den sterbenden Mitgefangenen verhöhnen und verletzen, weil der ihnen ein wenig Platz im Sterben streitig macht.

Robert Antelme erzählt nicht nur vom Hunger. Er erzählt nicht nur davon, was der Mensch bereit ist zu tun im Kampf um eine halbe Scheibe Brot. Er erzählt was der Mensch tut, wenn er zu lange kein Brot mehr erhalten hat. Er erzählt, was aus einem Menschen werden kann, wenn er alles verliert, was wir als Menschlichkeit definieren.

Dazwischen scheinen freilich immer wieder Reste von Menschlichkeit auf, etwa wenn er in kleinen Sequenzen die Beziehung eines Vaters und seines Sohns schildert, die sich gemeinsam auf dem Todesmarsch befinden. Der Vater hat alles verloren, was den Stolz eines Vaters ausmacht. Der Vater kann den Sohn nicht retten. Beide liegen – ich kann dies hier nicht anders schreiben, weil es der Autor in seinem Buch auch nicht anders ausdrücken kann – beide liegen in der gleich Scheiße, beide sind von Läusen blutig gebissen, beide sind völlig entkräftet und können nicht mehr weiter und wissen, wenn sie es nicht mehr schaffen aufzustehen, werden sie erschossen – und beide empfinden füreinander wie Vater und Sohn und Sohn und Vater. Antelme schilder einen Respekt, eine Zuneigung, die keine sichtbaren Wurzeln mehr hat, als nur noch den der Herkunft, Menschlichkeit, eingeschlossen von einer unmenschlichen Gewaltorgie, die sich jeder Erklärung entzieht.

Dieses Buch gehört in jede Bibliothek gestellt und in jeden Kopf gepflanzt

Ich habe etwas vergleichbares nirgendwo gelesen. Dieses Buch fasst einen an. Es ist erschütternd. Aber es ist auch überaus lehrreich, weil es tolerant macht, nicht gegenüber einem System der Unterdrückung oder gegenüber Terror und Unmenschlichkeit, sondern gegenüber allen, die in diesen Systemen sich nicht als Helden erweisen. Dieses Buch zeigt, wie wir alle im Terror unsere Menschlichkeit verlieren können, wie wir zu Raubtieren werden können, wie fließend die Unterschiede werden zwischen Mensch und Tier, wenn man uns unserer kulturellen Unterlage beraubt.

Das Buch hat fast 500 Seiten. Ein guter Lektor hätte es vermutlich auf 250 Seiten gekürzt und einen Bestseller daraus gemacht. Vielleicht wäre Antelme wie Solschenizyn für „Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch“ mit einem großen Preis ausgezeichnet worden. Aber wer bitte will ein solches Buch kürzen? Wer wagt es Hand an die Erinnerungen eines Überlebenden zu legen? Das wäre irrer Frevel. Also bitte: Kämpft Euch durch die 474 Seiten. Es tut weh. Sehr sogar. Aber es ist das wichtigste Buch in meinem bisherigen Leben als Lesender. Und ich habe lange darüber nachgedacht, ob ich das so formulieren kann. Denn ich liebe Bücher und ich habe doch ziemlich viele gelesen. Aber ich stehe dazu: „Das Menschengeschlecht“ von Robert Antelme ist das wichtigste Buch, das ich bislang in meinem Leben gelesen habe. Punkt.

Weil das Abdriften in Faschismus, Stalinismus und Terror so schnell geschehen kann und weil das Ergebnis so schrecklich ist, müssen wir wachsam sein.  Dieses Buch gehört in jede Bibliothek. Und in jeden Kopf.

Wer keine*n freundliche Buchhändler*in um die Ecke hat: mit einem Klick auf das Cover kann man es bei Buch7, dem sozialen Buchversender bestellen:

Illustrationen © Michael Kausch und Arolsen Archives – Arolsen Archives – International Center on Nazi Persecution www.arolsen-archives.org

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