Buchempfehlung: Selma Meerbaum-Eisinger: Ich bin in Sehnsucht eingehüllt.

Ein Gedichtband. Und eines der wichtigsten Bücher der deutschen Poetik. Selma Meerbaum-Eisinger starb am 16. Dezember 1942 im deutschen Arbeitslager Michailowka an Flecktyphus. Sie war eine von rund 1.200 ermordeten Juden, die dort für die Organisation Todt zu Tode gearbeitet wurden. Viele von ihnen stammten ursprünglich aus Czernowitz und der Region Bukowina, darunter auch die Eltern des Dichters Paul Celan, mit dem Selma Meerbaum-Eisinger verwandt war. Selma wurde 1924 ebenfalls in Czernowitz geboren. Sie wurde gerade einmal 18 Jahre alt.

Die Umwege der Gedichte von Selma Meerbaum-Eisinger

Schon als Schülerin begann sie Gedichte zu schreiben. Nur 57 haben die Wirren der Nazi-Barbarei überstanden. Ihre Publikationsgeschichte ist abenteuerlich. Die 57 Gedichte hatte Selma vor ihrer Deportation noch in Czernowitz als Album für ihren Freund Lejser Fichman zusammengestellt. Sie konnte es ihm aber nicht mehr selbst überreichen. Das Album erreicht ihn auf Umwegen über Freunde. Fichman selbst wird von den Nazis zur Zwangsarbeit verschleppt, nimmt aber das kleine Büchlein mit und versteckt es unter seinem Lager. 1944 überlässt er es Elsa Schächter-Keren, einer Freundin von Selma, da er selbst über das Schwarze Meer nach Palästina fliehen will und Angst hat, dass dabei die Gedichte verloren gehen. Eine kluge Entscheidung, denn er kommt bei der Torpedierung des türkischen Schiffs „Mefküre“ durch ein sowjetisches U-Boot am 5. August 1944, dem Geburtstag von Selma, ums Leben.

Elsa Schächter-Keren bringt das Büchlein mit den Gedichten 1949 nach Palästina. Dort bleiben die Texte jahrelang unveröffentlicht. Für Gedichte in der Sprache der Henker bestand in Israel nach der Shoa lange Zeit kein Bedarf.

In der DDR erschien 1968 ein einzelnes Gedicht Selma Meerbaum-Eisingers in einer Anthologie über Paul Celans Jugend. Ein ehemaliger Lehrer Selmas entdeckt dieses Gedicht und beginnt nach überlebenden Freundinnen zu suchen. So kommt er in Kontakt zu Elsa Schächter-Keren und veröffentlicht auf eigene Kosten die 57 erhaltenen Gedichte in einem Privatdruck in kleiner Auflage.

Erst als der deutsche Journalist Jürgen Serke Jahre später auf diesen Privatdruck aufmerksam wird und am 8. Mai 1980 in der Zeitschrift Stern darüber berichtet wird die literarische Öffentlichkeit auf die Bedeutung von Selma Meerbaum-Eisinger aufmerksam. Nach und nach erscheinen ihre Gedichte in mehreren Ländern. Es werden Lesungen veranstaltet, ihre Gedichte werden in Schulbücher aufgenommen, es erscheinen Theaterstücke und Vertonungen.

Bei Hoffmann & Campe ist eine überarbeitete Neuauflage erschienen. Und ich kann, wer Paul Celan schätzt, dieses Bändchen nur schwer ans Herz legen: Selma Meerbaum-Eisinger: Ich bin in Sehnsucht eingehüllt.

„Das ist das Schwerste: sich verschenken
und wissen, dass man überflüssig ist,
sich ganz zu geben und zu denken,
dass man wie Rauch ins Nichts verfließt.“

23. Dezember 1941

Illustrationen © Michael Kausch

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Eine Antwort

  1. Ich werde es kaufen und lesen.
    Weil Du es empfohlen hast und wenn ich mich von Deinen Empfehlungen habe inspirieren lassen, war es bisher stets ein Lesegenuss.
    Danke Dir, lieber Michael.

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