Carlo Levi

Carlo Levi: Die doppelte Nacht. Eine Deutschlandreise im Jahr 1958

„Christus kam nur bis Eboli“, 1945 erschien dieser autobiografische Roman von Carlo Levi. Damit wurde der Autor berühmt. 1958 kam Carlo Levi sogar bis Berlin. Und vorher in die Bierschwemmen von München und in die wieder aufgebaute öde Innenstadt Stuttgarts. Und bevor mich jetzt meine Stuttgarter Freunde mit handgeschabten Spätzle bewerfen und in Trollinger ertränken: Es war Levi, der sich über die schwäbische Ödnis aufs Heftigste mokierte:

„In Stuttgart, in seinem jetzigen Zustand nach der Zerstörung und dem Wiederaufbau, nachdem die Vergangenheit physisch zertrümmert und beseitigt worden ist, gibt es nur noch Platz für die Arbeit und für die Menschen der Arbeit: Maschinenbau-, Automobil- und chemische Industrie sowie Verlage und großartige Druckereien; die Massen auf der Straße sind gefangen in einer Geschäftigkeit ohne Ablenkungen, eingelullt in Klischees, unempfänglich für die Gefahren der Kultur, wunschlos glücklich in ihrem Frieden ohne Probleme und Ängste. … Nicht nur Stuttgart, sondern alle, oder so gut wie alle, alten kleinen Städte Deutschlands sind in Bezug auf das, was sie einmal waren, tot.“

Carlo Levi beschreibt das entnazifizierte Deutschland der späten 50iger Jahre als seiner Kultur beraubt, als tiefentwurzelt, verstört, als Nation, die auf der Flucht vor seiner Vergangenheit sich ins Wirtschaftswunder scheinbar gerettet hat und im neuen Reichtum rettungslos verloren ist. Er beschreibt Deutschland als ein Land, das seine kulturelle Identität in der Nazi-Barbarei verloren und seither nicht mehr wiedergefunden hat.

München, Hauptstadt von Bewegung und Bier

Die erste Station auf seiner Deutschlandreise ist München, die italienischste alle deutschen Städte. Als Leser des Buches begleiten wir ihn durch das Nachkriegsmünchen, in dem die Narben des Kriegs noch überall sichtbar sind. Der Autor führt uns nicht nur durch die wieder aufgebaute Ludwigstraße, sondern auch in längst vergessene Schwabinger Cabarets und natürlich auch in die Bierlokale der Innenstadt. Ihren Besuch schildert er mit leidenschaftlicher Genauigkeit:

„An rustikalen Tischen, auf Stühlen mit hohen Holzlehnen essen Frauen mittleren Alters Würste und trinken Bier. Ohne jegliche Zurückhaltung widmen sie sich ganz und gar diesen Köstlichkeiten, diesem Hochamt von Mund und Eingeweiden. Sie essen nicht: Sie fressen, verleiben ein, verschlingen, schlucken, kauen, zermalmen, saugen auf, wie riesige Seidenraupen, völlig versunken in die reine Gefräßigkeit. Ihre weiche rosige Haut verfärbt sich in alle Schattierungen von Rot und Violett, ihre Nasen glänzen, es glänzen ihre Augen, ihre blonden Locken kräuseln sich unter ihren Hütchen, ihre Wangen hängen asymmetrisch herab, ihre aufgedunsenen Körper scheinen aus ihrer Kleidung platzen zu wollen, ihre weichen , beringten Finger packen jene Würste wie besitzergreifende Krallen; und währenddessen unterhalten sie sich, ohne zwischen den Bissen innezuhalten, und lachen und schweigen, frei und glücklich. Neben ihn sitzen dicke Hunde mit kleinen gehäkelten Halstüchern.“

Ja gut, an manchen Stellen klingt Levi ein wenig nach einem Berichterstatter aus dem Hagenbeckschen Menschenzoo, nach einer Szene aus Fellinis Satyricon oder doch zumindest nach einer abgelehntem Arbeit aus einem kulturanthropologischem Oberseminar. Oder sagen wir es so: es ist ein kleiner geiler Text!

Berlin, zwei ungleiche Schwestern

Aber er besucht auch Berlin. Und Berlin ist weniger zotig. Da wird es dann doch politiktheoretisch. Denn er besucht ja die beiden Berlin, also West und Ost. 1958 konnte man noch – erst recht als Italiener – recht einfach mit der Stadtbahn hin und her fahren zwischen Berliner Ensemble und Schaubühne, zwischen Kudamm und Schönhauser. Und Carlo Levi erkennt an den beiden ungleichen Schwestern als Außenstehender mit scharfem Blick die einende Familienbande, das Schwesterliche. West und Ost einte die Neigung zur Übertreibung. Während der Westen die Neigung zur Kommerzialisierung übertreibe, übertreibe der Osten die Neigung zur Entsubjektivierung: „Die eine trägt ihren Reichtum zur Schau, die andere trägt auf die gleiche Weise ihre Armut zur Schau … die eine lässt das alte Individuum allein mit seinem Reichtum und seinem Elend, die andere bevormundet neue Massen und macht sie gleich“.

Denk ich an Deutschland in der Nacht

„Die doppelte Nacht“ von Carl Levi ist ein faszinierendes Buch. Es ist mehr als ein Reisebericht. Es beschreibt einen Blick von außen auf Nachkriegsdeutschland. Vieles von diesem Blick ist scharfsinnig und wie alles Scharfsinnige beinhaltet es mannigfache Übertreibung und Überspitzung, Zuspitzung und Zutreibung. Für Levi ist Deutschland das Anti-Italien. Wo Italien breit und wild ist, ist Deutschland hoch und verschlossen, wo Italien Renaissance ist, ist Deutschland Gotik, wo Italien extrovertierte und authentische wilde Lebenslust ist, ist Deutschland sich selbst verleugnende Zucht. Er hegt großen Respekt für Goethe, Kant und die Größen der deutschen Wissenschaft. Aber er sieht nichts mehr übrig vom „deutschen Geist“ im kommerzgeprägten Nachkriegsdeutschland des Jahres 1958. Für ihn ist Deutschland in jenem Jahr ein schlafender Riese, der, erst einmal geweckt, zum Segen für Europa oder zum neuen Tyrannen werden kann.

Dieses Deutschland hat sich seit 1958 sehr verändert. Fast siebzig Jahre später aber hat Levis Sicht auf unser Land nichts an Aktualität eingebüßt.

Carlo Levi: Die doppelte Nacht. Eine Deutschlandreise im Jahr 1958. Verlag C.H. Beck 2024. 20 Euro.

Illustrationen © Michael Kausch

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