Kleines Drama am Rande des großen Dramas, das sich gerade im Iran abspielt: Der brasilianische Beststeller-Autor („Der Alchimist“) und UN-Friedensbotschafter Paulo Coelho hat in auf dem mittlerweile millionenfach abgerufenen YouTube-Amateurvideo, das die Erschießung von Neda Agha Soltan zeigt, seinen Freund, den iranischen Arzt Arash Hejazi, wiedererkannt. Auf seinem Blog gibt er einen geradezu gespenstigen Email-Wechsel wieder zwischen ihm und Hejazi, in dessen Armen Neda starb, und der mittlerweile aus Angst vor Repressalien nach London geflohen ist. Coelho selbst hat darüber auf Twitter berichtet: „# Iran My friend, the doc who tries to revive Neda, just landed in UK. You can see him, our emails at http://bit.ly/TNrPz„. Mit geht dabei ein ganz und gar analoger Schauer über den Rücken!
Wenn einen dieses Video nicht schon fertig gemacht hat, dann gibt einem dieser Briefwechsel den Rest.
Bekommt „irgendein weiterer Krisenherd auf der Welt“ auf einmal ein Gesicht, eine Geschichte, dann hört er auf einfach nur ein weiterer Krisenherd zu sein. #gänsehaut #wut
Ich bin einfach nur ratlos – was sind meine Motive, wenn ich mich weigere, das Video anzuschauen? Warum soll ich mich „fertigmachen“ lassen? Was sind meine Motive, wenn ich mich frage, was es zur Aufklärung von irgendetwas beiträgt? Was ist die Aussage? Eine junge Frau stirbt auf der Straße. Ich weiß nicht, wer sie erschossen hat, ich weiß nicht, weshalb sie erschossen wurde. Ich weiß, dass es Menschen gibt, die zu grauenvollen Taten fähig sind und andere Menschen umbringen. Hilft uns das Mobiltelefon mit Videofunktion dabei, diese Tatsache besser zu verstehen? Oder befriedigt es nur unsere Sensationsgier? Und was sagt es aus über die politischen Verhältnisse im Iran? Und wem hilft es? Ich weiß es nicht.
Es macht einfach nur betroffen – noch betroffener als damals, als wir wegen der wackeligen Fernsehbilder aus dem Dschungel Vietnams zu Tausenden auf die Straße gegangen sind. Und wo sind heute die Demonstranten vor dem Capitol (oder auf dem Marienplatz)?
Die Virtualität hat uns alle abgestumpft. Und dann kommen plötzlich ein paar Bilder, die das Blut wieder aufkochen lassen. Weil da draußen wirklich Leute für eine Idee verbluten. Und nicht nur Avatare, die man abknallen kann, ohne zweimal nachzudenken.
@tim Demostrationen vor dem Capitol, dem Landtag, oder in der Münchner Fussgängerzone haben noch nie etwas bewirkt und eine Demonstration in Teheran, ist ausgesprochen gefährlich. Was soll denn bei einer solchen Demo auch gefordert werden? Dass die Uno/Nato/USA den Iran bombadieren?
Als Alt-68er würde ich heftig widersprechen, als Landtags-Raucher auch: Demos können die Dinge bewegen. Besser als stumm vor dem Bildschirm sitzen und sich so lange das Neda-Video reinziehen, bis man sich gerne selber eine Kugel in den Kopf schießen möchte.
Warum werd ich nur immer so misstrauisch, wenn sich alle Medien einig sind? Ich sehe nur noch Propaganda, und jetzt wird Mahmud Ahmadinedschad von tagesschau.de auch noch dafür verantwortlich gemacht, dass ihn ein paar Rechtsradikale in Deutschland gut finden.
Was die Kritik an England und der BBC-Berichterstattung betrifft: Da hat die iranische Führung ja wohl gute Gründe, jede Einmischung in innere Angelegenheiten des Landes zurückzuweisen. Die britische Upper Class glaubt seit Jahrhunderten, sie wüsste, wie man dem Rest der Welt eine bessere Regierungsform beibringt. Vor allem zwischen Mittelmeer und Ganges gibt es kein Volk, das nicht von den Briten belogen und betrogen worden ist, Iran ganz besonders bei den Auseinandersetzungen mit Russland im 19. Jahrhundert. Wer wissen will, was die britischen Kolonialisten im 20. Jahrhundert in Burma (Birma, Myanmar) angerichtet haben, dem empfehle ich die Lektüre von George Orwells Roman „Tage in Burma“. Und die Nachfahren dieser britischen Upper Class, die bis in die Knochen korrupte politische Klasse von heute, hat erst vor ein paar Jahren – unter Mithilfe aller Medien von Sun bis BBC – ein propagandistisches Lügengebäude aufgebaut, um den Angriffskrieg gegen den Irak vor dem Wähler zu rechtfertigen. Tony Blairs Nachfolger Gordon Brown hat vor zwei Wochen ohne viel Umschweife deutlich gemacht, dass man eine unabhängige Untersuchung der Irak-Lügen vergessen kann, solange Labour die Regierung stellt. Im Gegensatz zu den Ereignissen im Iran kann Brown auch kein Wahlbetrug vorgeworfen werden – er hat sich nie einer Wahl gestellt.
Und die USA? Bis vor Kurzem hat die Regierung in Washington selten eine Gelegenheit ausgelassen, dem Iran mit einem militärischen Angriff zu drohen (von den Gewaltandrohungen der Israelis mal ganz abgesehen, die alles in Grund und Boden bomben wollen, was mit dem iranischen Atomprogramm zu tun hat – wenn man ihnen nur freie Hand ließe).
Wieso soll ich jetzt auf einmal auf der Seite Englands oder der USA, auf der Seite von Angela Merkel oder Benjamin Netanjahu stehen? Weil ein Video im Internet zeigt, wie eine junge Frau auf der Straße stirbt? Ging nicht erst vor ein paar Monaten ein Video um die Welt, in dem zu sehen war, wie britische Polizisten bei den Demonstrationen gegen das G-20-Treffen in der U-Bahn einen Mann umgebracht haben? Was ist der Unterschied zu dem Video aus Teheran? Dass es sich im einen Fall um eine junge Frau handelt, im anderen um einen Mann in mittleren Jahren? Es gibt noch ein Beispiel von Polizeigewalt aus den letzten Wochen, das allerdings nicht auf Video festgehalten wurde. Es passierte ganz in der Nähe: In Regensburg wurde am 30. April 2009 ein 24-jähriger Musikstudent mit dem ungewöhnlichen Namen Tennessee Eisenberg erschossen, der angeblich zwei Polizisten mit einem Messer bedroht hat. Bei der Obduktion fand man zwölf Kugeln aus Polizeipistolen in seinem Körper, einige trafen ihn im Rücken. Die Staatsanwaltschaft spricht, wie in solchen Fällen üblich, von Notwehr.
Nichts gegen Menschen, die um eine 19jährige Frau trauern, die in Teheran auf der Straße angeschossen wurde und gestorben ist. Nur: Wer weiß schon, was da passiert ist? Wer geschossen hat? Warum? Wo? Wann? Und was beweist ihr Tod? Ich weiß nur, dass das Video jetzt zu Propagandazwecken missbraucht wird.
Demokratie ist, wenn dem Westen das Wahlergebnis passt.
Also, ich bin auf Seiten von Neda. Die Briten und Frau Merkel sind mir schnuppe.