In seinem leider auf tragische Weise verschollenen Standardwerk „Digitalis vincit omnia“ gelang Czylansky, wie wir aus einem Briefwechsel mit seinem Freund Alois Beckstein wissen, eine grundsätzliche philosophische Standortbestimmmung der Digitalität im Kontext der freien Willensausübung. Wie Beckstein (angeblich ein entfernter Vorfahre des heutigen bayerischen Minsterpräsidenten) verriet, ging den Ereignissen um Niederschrift und Verlust von „Digitalis“ ein heftiges, mehrere Nächte dauerndes Streitgespräch der beiden im Restaurant Cooperativo („Coopi“) in Zürich voraus.
Hier kam es vermutlich auch zur denkwürdigen Begegnung mit James Joyce, in deren turbulentem Verlauf Joyce (wie fast jeden Abend) volltrunken ins Lokal kam und schrie, er habe „eine viel bessere Odysee als Homer“ geschrieben, worauf er drei Flaschen „Chateau Limatkai“ verwettete. Es ist übrigens unwahrscheinlich, dass Joyce seinen Wettgewinn einlösen konnte, denn er starb bekanntlich wenige Stunden später an den Folgen eines Magendurchbruchs.
Wie der irische Philosoph George Berkeley vertrat Czylansky in „Digitalis“ laut Beckstein die Auffassung, dass eine von der Wahrnehmung unabhängige Außenwelt nicht existiere, dass diese Wahrnehmung aber virtualisiert mit Hilfe „mechanischer Hilfsmittel“ – welche, konnte er natürlich noch nicht detailliert erahnen – möglich sei. Inspiriert von Lewis Carrol’s „Alice im Spiegelland“ postulierte er die Existenz einer „Welt hinter dem Schirm“ [vermutlich meinte er Kinoleinwand, die damals weitverbreiteste Form der Projektion, obwohl die Kathodenstrahlröhre („Braunsche Röhre“) bereits seit 1897 bekannt war, die Red.], in der Menschen im Sinne Schopenhauers sowohl in der Lage sein würden, begrifflich zu denken als auch sich Begriffe anschaulich vorzustellen. Statt sich allerdings Schopenhauers „Primat des Willens“ über alle Vorgänge der organischen und anorganischen Natur unterzuordnen, sei der digitale Geist in der Lage, frei schwebend, also losgelöst von Raum und Zeit, jedoch nicht von Kausalität, sich der individuierten und verknüpften Erscheinung seinen Willens bewusst zu werden.
Das Mansukript von „Digitalis“ schrieb Czyslansky laut Berkeley in nur drei Tagen auf seiner alten Remington Noiseless No.6., bemerkte aber erst, als die letzte Seite getippt war, dass sich das Farbband der damals bereits hochbetagten Schreibmaschine bereits mitten auf der ersten Seite verhakt hatte und klemmte – nicht das erste Mal, dass Czyslansky von der Unzulänglichkeit der ihm damals zur Verfügung stehenden Technologie in seinem Wirkungsdrang gebremst wurde…
Übrig blieb ein Stapel scheinbar leerer Manuskriptblätter, was den genialen Vordenker der digitalen Revolution kurzzeitig so entmutigte, dass er sie dem Wirt des Coopi im Tausch gegen eine weitere Flasche Limatkai eintauschte. Dieser zerschnitt sie und legte sie auf der Herrentoilette des Etablissements aus, wo sie nach und nach unwiederbringlich im Orkus verschwanden.
Selten, vermutlich nie in der Geschichte ging persönliche Hygiene so sehr auf Kosten menschlicher Erleuchtung. Eine Tragödie, deren Ausmass sich uns erst heute in ihrer vollen Tragweite zu erschließen beginnt.
eigentlich habe ich den hoch interessanten ausführungen tims hier nichts hinzuzufügen. ausser vielleicht ein bild. es zeigt – nein, leider nicht czyslansky – james joyce in triest. vor ihm, das dürfte vermutlich der bekannte herr zettel sein. bin mir da aber nicht ganz sicher.
http://www.galerie.camera-info.de/showphoto.php?photo=24069&size=big&cat=&ppuser=2462
So epochal dieser Bericht ist, geht er doch leider von einer falschen Voraussetzung aus: Mit „Digitalis vincit omnia“ gelang Czylansky nicht etwa eine „philosophische Standortbestimmmung der Digitalität im Kontext der freien Willensausübung“, sondern vielmehr ein philosophisch unterfütterter Diskurs über die Wirkungsweise des Gifts der Pflanzengattung der Fingerhüte (lateinisch Digitalis) im Kontext der freien Willensausübung. So ist „Digitalis vincit omnia“ ganz konkret mit „Der Fingerhut besiegt alles“ im Sinne des unausweichlich wirkenden Gifts zu verstehen, was natürlich auch die weiteren Folgerungen in einem ganz anderen Licht erscheinen lässt.
Diese tiefere Erkenntnis über das Wesen des Czylanskyschen Denkens verdanke ich meinem Großonkel mütterlicherseits, der, um die fragliche Zeit im Coopi verkehrend, an dem bewussten Tag an starker Diarrhoe leidend, längere Zeit auf der Herrentoilette des Etablissement zubrachte und, über die Art des dort ausgelegten Papiers verwundert, vor seinem Gebrauch mühsam die kaum sichtbar eingeprägte Schrift im schwachen Schein des Abortlichts entzifferte und ob der darin sichtbar werdenden Genialität erschauerte, was seiner Diarrhoe immer neuen Antrieb verlieh, sodass er nach und nach das gesamte Werk Czylanskys sowohl erfuhr als auch hinter sich brachte.
Auch wenn wir hauptamtlichen Czyslansky-Forscher natürlich den wertvollen Beitrag talentierter Amateure bei der Schließung schmerzlich klaffender Lücken in unseren Wissensstand über diesen großen Geist schätzen, muss vor voreiligen, auf Hörsensagen oder oraler Überlieferung basierenden Schlüssen gewarnt werden.
Zwar ist es richtig, dass Czyslansky die Verwendung bewußtseinserweiternder Stoffe zur Wirkungsunterstützung der vor allem in seiner Frühzeit äußerst beschränkten technischen Hilfsmittel zur Erlangung des angestrebten Zustands der Loslösung des digitalisierten Geistes vom Primat des Willens bedient hat. Insofern kann Czyslansky durchaus zu Recht als ein Vordenker jener Generation enthusiastischer Gruppenforscher gelten, die Ende der 60er Jahre vor allem im Haight-Ashbury-Viertel von San Francisco ihren Versuchen nachgingen, die Fesseln der Analogität abzuwerfen und den Weg zu einer quasi-digitalen Entrücktheit zu erlangen (siehe Aldershot et al., „Bottled Love“, Berkley University Press, 1967).
Dass Czylansky kurzzeitig unter anderem auch mit dem Extrakt von verschiedenen zur Familie der Wegerichgewächse (Plantaginaceae) zählenden Pflanzen experimentierte, ist ebenfalls bekannt – ja, es wäre verwunderlich, wenn er ausgerechnet diese bereits seit dem 16. Jahrhundert wegen ihrer angeblich enzianähnlichen (!) Wirkung bekannte Heil- und Giftpflanze ausgelassen hätte, wo er ansonsten offenbar den Ehrgeiz besaß, die ganze bis dahin bekannte Pflanzenwelt in seine allabendlichen Versuchsreihen einzuschließen. Auch dem seltsamen Gemisch von Alaun, Apfelsaft und Bleiazetat („Bleizucker“), den der Wirt des Coopi um diese Zeit unter dem Fantasienamen „Chateau Limatkai“ ausschenkte, wird ja eine gewisse halizunatorische Nebenwirkung zugeschrieben, die aber als eher anekdotisch anzusehen ist.
Dass Czylansky allerdings ein ganzes Frühwerk dem Rote Fingerhut (Digitalis purpurea) gewidmet haben soll, ist in hohem Maße unwahrscheinlich. Schließlich konnte auch der gelehrte Tabernaemontanus (vulgo: Jacob Theodor, 1522-1590) keine ernsthafte Anwendung für diese Pflanze finden, was ihn zu den bekannten Ausspruch nötigte: „Wozu diese Kreuter zu gebrauchen seyn/ finde ich nicht bey den Authorn.“
Viel wahrscheinlicher ist, dass Ihr Großonkel einer sich bis heute hartnäckig haltenden, jedoch irrigen Ansicht nachhing, Digitalis pupurea sei ein Verwandter der Hanfgewächse und deren Wirkungsweise deshalb mit der der Cannabinoiden vergleichbar. Welche Auswüchse diese Fehlannahme haben kann beweist das Schicksal der bereits 1895 gegründeten, heute jedoch (bis auf gewisse digitale Restspuren im Internet) verschwundenen Digitalis Bakery in Chicago, ein erfolgloser Vorläufer der heutigen Hanfbäckereien.
Nein, so einfach wird sich das Geheimnis um „Digitalis vincit omnia“ wohl doch nicht lüften lassen. Allerdings könnte ein wichtiger Schlüssel darin zu suchen sein, dass der große, der unvergleichliche Cyzslansky ungeachtet seiner sonstigen Verdienste um die zivilisatorische Bedeutung der Digitalität in der Moderne doch zugegeben eine kleine, allzu menschliche Schwäche besaß: Sein Latein (vergl. Hammermaier, Schmidtbauer und Grobian, „Czyslansky – Schulzeit und frühen Wanderjahre“, Universitätsverlag Heidelberg, 1952) war einfach grauenhaft!
Wenn man dem Chronisten Glauben schenken darf, stützen sich unsere Erkenntnisse über Czylanskys Frühwerk „Digitalis“ einzig auf einen Amateurforscher in persona meines Großonkels – schließlich scheint Czylansky sein Elaborat nicht einmal selbst gelesen zu haben, vorausgesetzt, das Versagen seiner Schreibmaschine war tatsächlich ein solches und das Schreiben ohne Farbband nicht Teil einer Machination Czylanskys, die das Auslegen des Manuskripts in der besagten Herrentoilette einschließt und deren Ziel bei unserem heutigen Kenntnisstand noch obskur erscheint. Jedenfalls ist dieses wissenschaftlich gesehen unsichere Zeugnis vom Inhalt des Manuskripts bedauerlich, um so mehr, als gewisse Zweifel an der Seriosität des Berichts angebracht erscheinen.
Mein Großonkel war nämlich eigentlich nur ein Nenn-Onkel, in Wahrheit jedoch ein sehr entfernter Verwandter meiner Mutter. Er trug den Namen Monkhouse, einer unbedeutenden Seitenlinie des bedeutenden schottischen Irving-Clans, dessen Wurzeln bis ins 4. Jahrhundert zurückreichen, der über Jahrhunderte die schottischen Könige stellte und dem auch meine Mutter, eine geborene Irving, entstammte.
Die Monkhouse-Linie verdankt ihr Entstehen einer romantischen Episode am Rande der 2. Schlacht von Höchstädt am 13. August 1704, mit welcher der spanischen Erbfolgekrieg (1701 – 1714) einen gewissen Höhepunkt erreichte. In dieser Schlacht besiegte ein alliiertes Heer aus Österreichern, Kaiserlichen, Holländern und Engländern das französisch-bayerische Heer, und bei den kaiserlichen Truppen diente als Offizier auch ein gewisser Franz Titus von Münchhausen, ein Vorfahr von Karl Friedrich Hieronymus Freiherr von Münchhausen, (1720 – 1797), der als Lügenbaron in die Literaturgeschichte einging.
Befehlshaber der englischen und holländischen Truppen war John Churchill, der spätere erste Herzog von Marlborough (1650-1722). Auf diesem Feldzug begleitete ihn eine gewisse Mary Beth Irving, die von Zeitgenossen wegen ihrer Schönheit und Anmut gerühmt wurde. Zwischen dem jungen, feschen Franz Titus und Mary Beth entspann sich nun im Feldlager vor der Schlacht eine Liaison, und als dies Churchill zu Ohren kam, schickte er sie erbost nach Hause. Franz Titus folgte ihr nach Schottland und anglizierte dort seinen Namen zu Monkhouse (wie es später ja auch in englischen Königshäusern üblich wurde). Nach ihrer Heirat lebten Mary Beth und Franz Titus Monkouse dort glücklich bis an ihr Ende und vererbten den Münchhausischen Hang zum Märchenerzählen an ihre Kinder und Kindeskinder.
All dies in Betracht gezogen, scheint es immerhin möglich, falls sich nicht noch weitere und vor allem seriösere Quellen erschließen lassen, dass der wahre Inhalt eines Frühwerks eines so bedeutenden Denkers wie Czylansky als leider für immer verloren gelten muss.