Buchbesprechung: Robert Antelme: Das Menschengeschlecht
Buchbesprechung: Robert Antelme: Das Menschengeschlecht Niemals hat mich ein Buch mehr verstört, niemals mehr berührt, als dieses: „Das Menschengeschlecht“ von Robert Antelme. Ich habe das
Ich habe die furchtbare Angewohnheit zumeist mehrere Bücher gleichzeitig zu lesen. Manchmal liegen hier zwei, manches Mal auch drei oder vier angelesen Bücher herum, mit hübschen Lesezeichen oder weniger hübschen „Eselsohren“ als Markierungen für die jeweiligen Lesefortschritte. Und wie bei einem Autorennen, geht es mit manchen Werken schneller voran, mit machen langsamer. Und machmal bleibt ein Werk auch auf halber Strecke liegen. Es kann auch vorkommen, dass ich in wilden Zeiten die Passagiere ein wenig durcheinander bringe, die Figuren unerkannt umsteigen und ich ein wenig den Überblick verliere. Ich gebe es zu. Da ist es gut, wenn sich unter den angelesenen Exemplaren mal ein Buch befindet, dass mich nicht zum linearen Lesen zwingt, das aus Gedichten oder Kurzgeschichten besteht, aus verdaulichen Häppchen, aus literarischen Fünf-Minuten-Terrinen. Das „Buch der gescheiterten Kunstwerke“ – so der Untertitel – von Thomas Steinaecker ist ein solches. Es ist ein großartiger ausformulierter Zettelkasten. Ein Sammlung phantastischer Fundstücke. Ein buntes Bilderbuch für die Leser*innen des ZEIT-Feuilletons. Eine anregende Freibad- und Sommer- und Urlaubslektüre. Ein Spaßmachbuch. Ein Balsam für die noch von Robert Antelme verwundete Leserseele.
„Erst die Fantasie macht das Fragment zum Mythos“ schreibt Siegrid Löffler in ihrer Kritik des Buchs in der Süddeutschen Zeitung. Und damit beschreibt sie ganz hübsch, was „gescheiterte Kunstwerke“ in ihrem vorgeblichen Scheitern unsterblich macht: dass sie gerade durch ihre Unabgeschlossenheit die Phantasie des Lesenden anregen. Wir sind gezwungen sie zu Ende zu reimen. Wir übernehmen einen Teil der künstlerischen Arbeit und imaginieren einfach die Fertigstellung in unserem Kopf. Aus, fertig, Schachtel zu.
Deshalb bieten die 600 Seiten, auf denen Steinacker uns eine Vielzahl unfertige Kunst- und andere Gedankenwerke zum Weiterbauen anbietet, nur einen Ausgangspunkt für Hunderte weiterer Seiten, die wir selbst in unserer Phantasie fortschreiben können.
Viele der von ihm ausgegrabenen Projekte sind mehr oder weniger bekannt. Man begegnet zahlreichen alten Bekannten. Das Einzigartige an diesem großartigen Buch ist die Fleißarbeit, dies alles zusammengetragen zu haben.
Da ist zum Beispiel das Mozart-Requiem. Es ist Teil meiner kleinen Sammlung an Requiems und es ist lange bekannt, wie und wer dieses wunderbare Werk unter dem Namen Mozarts zu Ende fälschte. Man könnte diese Episode heute ebenso gut in der Wikipedia nachlesen, aber schwarz auf weiß liest es sich natürlich schöner, erst recht, wenn gleich danach der Autor uns auf die verschlungenen Pfade von Schuberts Unvollendeter führt und dabei am Wegesrand auf die Blaue Blume der deutschen Romantik verweist. Denn wie jeder gut geführte Zettelkasten lebt dieses Buch von den zahlreichen schlau geknüpften Querverweisen. Thomas von Steinacker weiß viel und er beherrscht das Hypertextspielchen ohne Links, ganz altmodisch auf knisterndem Totholz.
Auch zahlreiche Beispiele aus der Literatur führt er an, etwa den von mir überaus geschätzten W.G.Sebald mit dessen „Aufzeichnungen aus Korsika“. Auf Korsika führt Sebald 1996 eine Art Reisetagebuch. Die darin zusammengetragenen Notizen wollte er später in Benjaminischer Tradition zu einem Werk zusammenführen. Es ist niemals etwas draus geworden. Stattdessen hat er danach das Buch Austerlitz geschrieben, das ich an anderer Stelle bereits vorgestellt habe.
Weitere Beispiele gescheiterter Kunstwerke mit offenem Ende führen uns in die Architektur, natürlich zu den großen Dombau-Projekten der Gotik, den berühmte jeweils mehr als hundertjährigen Baustellen in Köln und Barcelona, aber auch zu weniger bekannten unfertigen Projekten, zum Beispiel in Bourges und New York. Auch das Alantropa-Projekt führt Steinacker an, jenes Hybris-Projekt, in dem der deutsche Architekt Herman Sörgel in den dreissiger und vierziger Jahren das Mittelmeer zwecks Landgewinnung teilweise trocken legen wollte. Hierzu sollten gigantische Staudämme bei Gibraltar, Sizilien und am Marmarameer den Wasserspiegel des Mittelmeers um bis zu 200 Meter absenken. Man hätte zu Fuß von Europa nach Afrika spazieren können und Venedig wäre keine Küstenstadt mehr gewesen. Eine Nummer kleiner geht es bei den gescheiterten Merz-Bauten von Kurt Schwitters in Hannover zu. Steinacker schildert diese Kunstgebäude, die Schwitters wieder und wieder errichtet, nach mehrfachen Zerstörungen durch Krieg und Faschismus.
Und hier sieht man auch, wie wenig Gemeinsames die in diesem Buch versammelten Objekte und Projekte eigentlich haben: einige Werke sind reine Kopfgeburten und niemals realisiert worden, andere, wie die Merz-Bauten, wurden von Krieg, Faschismus oder schlicht und ergreifend von Wetter und Zeit vernichtet. Einige waren das Ergebnis ernst zu nehmender künstlicher Auseinandersetzung mit der Welt, einige intellektueller Harndrang. Die Projekte sind so divers, wie ihre Urheber, deren Namen, von denen ich hier nur einige stellvertretend nennen will: da Vinci, Stockhausen, Beach Boys, Marx Brothers, Musil, Celan, Hölderlin, Marc, Klimt, Puccini, Ende, Welles, Ludwig II, Karl May, Hitler, Beckmann, Kafka, Fellini, Monroe. „Ein Kessel Buntes“ ist dagegen eine Graustufenkarte.
Insofern ist dieses Buch das Ergebnis einer wunderbaren Fleißarbeit und ein phantastischer anregender Lesestoff. Aber es ist ein Rohstoff. Es kommt drauf an, was man draus macht. Es vermittelt aus sich heraus noch keine Erkenntnisse. Es ist ein intellektuelles Spaßbuch. Nicht mehr und nicht weniger.
Ein Projekt, von dem ich übrigens noch nie zuvor gehört hatte war die Sammlung „Letzte Worte“ von Ernst Jünger. Vielleicht liegt dies daran, dass mir Jünger auf Grund seiner Kriegsverherrlichung – Stichwort „Stahlgewitter“ – immer reichlich suspekt war. Auch seine zeitweilige Nähe zum Nationalsozialismus und vor allem seine Faszination, die er bei den Nazis auslöste, waren mir stets ein Graus. Aber letztlich war er ein skurriler Grenzgänger, der immer ein „Querdenker“ war, auf der Suche war nach den Dingen, die gerade nicht „political correct“ erschienen. Ganz sicher war er kein angepasster Langweiler. Er war ein Sinnsuchender, der auf den falschen Pfaden suchte. Seine metaphysische Suche nach dem Sinn des Lebens hat wohl auch dazu geführt, dass er ein Projekt ins Leben rief, das gleichfalls als unabgeschlossenes Einzug in dieses Buch fand: er sammelte „Letzte Worte“ bekannter und unbekannter Sterbender. So entstand eine offenbar überaus skurrile – ja nochmal – Zettelsammlung. Hunderte letzte Worte hat er offenbar auf Karteikarten notiert. Einige zitiert Thomas von Steinacker, so etwa den Hamburger Kiezkönig „Hannack“: „Wat dann sin mut, mut sin“ oder Gerhart Hauptmann „Bin ich noch in meinem Hause?“ und Karl Valentin mit „Ich wusste nicht, dass Sterben so schön ist“. Mein Lieblings-Abschied stammt übrigens von Paula Modersohn-Becker: „Wie schade“. Kurz, knapp, passend.
Irgendwie hat aber wohl auch Ernst Jünger eingesehen, dass man aus Letzten Worten dem Leben keinen Sinn abgewinnen kann. „42“ hat jedenfalls keiner gesagt.
Illustrationen © Michael Kausch
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Beruflich ist er als Kommunikationsexperte spezialisiert auf strategische und konzeptionelle Unternehmensberatung und Coaching im Bereich integrierter Unternehmens- und Marketingkommunikation, Markenkommunikation, Reputationsmanagement, Krisen-PR, strategisches Social Media Marketing, Inbound Marketing und vertriebsorientierte Öffentlichkeitsarbeit.