Der 8. Mai – Befreiung oder Niederlage?

Hotzenplotz

Sollen wir den 8. Mai als Tag der Befreiung zum Feiertag erklären? Oder empfinden wir diesen Tag als „Tag der absoluten Niederlage“, als  „Tag des Verlustes von großen Teilen Deutschlands und des Verlustes von Gestaltungsmöglichkeit“, wie Alexander Gauland von der AfD vor wenigen Tagen suggerierte? 

Für mich beantwortet sich diese Frage nach Befreiung oder Niederlage sehr einfach, indem ich mir eine andere Frage stelle:

Würde ich in einem Deutschland leben wollen, das den letzten Krieg gewonnen hätte?

Nein, das würde ich ganz sicher nicht. Ein siegreiches Deutschland wäre ein Nazi-Deutschland, ein Deutschland, dem noch mehr Menschen zum Opfer gefallen wären, ein Terror-Staat, eine Hölle für alle Menschen und alle Werte, die mir heute lieb und teuer sind. Und eben deshalb ist für mich der 8. Mai ein Tag der Befreiung.

Für alle Opfer von Nazi-Deutschland ist er das ohnehin. Ich bin kein Opfer. Ich bin kein Sieger. Aber ich bin ein Befreiter.

Aus heutiger Sicht wäre es furchtbar, hätte Nazi-Deutschland den Krieg gewonnen. Davon bin ich überzeugt. Deshalb empfinde ich 1945 eben nicht als Niederlage „für mich“, sondern als Niederlage für ein Deutschland, in dem ich nicht leben würde wollen.

Als Konsequenz des Krieges haben meine Eltern und Großeltern ihre Heimat in Sudetenschlesien verloren. Meine Eltern stammen aus Weidenau (heute Vidnava) im Altvatergebirge. Eine meiner beiden Großmütter wurde in einem Ort geboren, dessen Name viele besser kennen werden: sie stammt aus Hotzenplotz (heute Osoblaha), ebenfalls im Sudetenland. Hotzenplotz ist ein Ort, der früher mehrheitlich von Juden bewohnt war. Hotzenplotz seht Ihr im Titelbild.

Vidnava
Der Autor zu Besuch in Vidnava

Flucht und Vertreibung sind doch nicht 1945 plötzlich über meine Eltern hereingebrochen. Ihre Zukunft haben sie doch schon 1933 mit Hitlers Machtergreifung oder spätestens 1938 mit dem Münchner Abkommen verloren. Selbst für sie datiert die „Niederlage“ früher als 1945.

Und verspielt wurde diese Zukunft von ihren Eltern, von meinen Großeltern, von all jenen mehr oder weniger aktiven Nazis, Mitläufern und Nicht-Demokraten, die den Aufstieg der Faschisten nicht verhindert oder gar gefördert haben. Da mag die Schuld höchst ungleich verteilt sein. Meine eigene Familie ist da grad beispielhaft durchschnittlich:

Die wahre Niederlage war vor dem 8. Mai

Die Niederlage meines Großvaters väterlicherseits zum Beispiel begab sich schon 1942 in einem Wäldchen knapp einhundert Kilometer vor Moskau, als ihn eine Mine zerriss. Er war ein einfacher Soldat, kein Nazi, nach allem was ich weiß, schon gar kein Kriegsverbrecher. Er zog in den Krieg, wie Millionen andere auch.

Er hat sogar etwas erobert: einen kleinen bemalten hölzernen Löffel eines russischen Bauern. Den hat er mit der Feldpost nach Hause geschickt. Dieses Beutegut liegt heute bei mir im Schrank und wird sorgsam bewahrt und behütet: Raubvolkskunst. Wer weiß schon, was aus dem Haus geworden ist, in dem der Löffel vor achtzig Jahren benutzt wurde. Niedergebrannt? Mitsamt seinem Benutzer? War mein Opa vielleicht doch an einem Verbrechen beteiligt? Wer kann schon in einem Krieg frei von Schuld bleiben? Ich werde das wohl niemals erfahren.

Nachricht Russland

Einzig mein Großvater mütterlicherseits erlebte wirklich den Mai 1945 als Niederlage. Er wurde damals als Nazi und Kriegsverbrecher für einige Zeit in ein tschechisches Lager gesperrt. Er war aktives NSDAP-Mitglied und hatte schon vor dem „Anschluss“ des Sudetenlands illegal mit den Deutschen kooperiert und die Ressentiments der deutschen Bevölkerung gegen die tschechische Regierung aktiv befeuert. Es gab auch illegale Waffengeschäfte vor Ort. Ob er daran aktiv beteiligt war weiß ich nicht. Er beschäftigte später in seiner Mühle über einige Jahre mehrere Kriegsgefangene.

Er war ein kleiner Provinzfaschist, einer von der Sorte, von der Deutschland 1945 befreit wurde. Dafür bin ich den Alliierten dankbar. Das klingt hart, aber so hart ist die deutsche Geschichte, eine Geschichte, die sich in unseren Familien widerspiegelt. Wir sind Teil dieser Geschichte. Von ihr können wir uns nicht befreien. 

Eine Antwort

  1. Vielen Dank für den Einblick in Deine Gedanken und Deine Familienchronik.
    Ja, ich gebe Dir Recht, in einem Deutschland, das den Krieg gewonnen hätte, würde ich auch nicht leben wollen.
    Vielleicht nicht mal dürfen.

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