Ich bin in einer kleinen Siedlung in der fränkischen Provinz groß geworden. Die Siedlung bestand nur aus einigen Häusern, die sudetendeutsche Heimatvertriebene entlang einer Bundesstraße neben einem kleinen Dorf errichten durften. Das Dörfchen bestand aus etwas sieben oder acht uralten Bauernhöfen, die augenscheinlich den Dreißigjährigen Krieg mehr oder weniger lädiert überlebt hatten. In diesen Hofstellen saßen graue krumme Bäuerlein, die von eben diesem Krieg noch sichtlich gezeichnet waren.
Der einzige Kontakt zwischen der protestantischen Bauernschaft und den katholischen Flüchtlingen bestand darin, dass die Flüchtlinge Milch und Eier und im Dezember auch noch ihre Christbäume bei den Bauern holten. Sonst wusste man voneinander wenig. Man ging sich eher vorsichtig als ehrfürchtig aus dem Weg.
Bei den Wahlen machten die Bauern ihr Kreuz bei der CSU – in den sechziger Jahren auch schon mal bei der NPD – während die Flüchtlinge zu 90 Prozent sozialdemokratisch wählten. Das lag daran, dass man in der SPD sein musste, um nach dem Krieg in der Siedlung an ein Baugrundstück zu gelangen, da die Organisation der Grundstücksvergabe – Erbbaurecht! – und der nachbarschaftlichen Gewerke auf geheimnissvolle Weise über einen alten Baumeister aus dem Riesengebirge organisiert wurde. Aber das ist eine andere und ganz eigene (Nachkrieg-)Geschichte.
Einer der Bauern jedenfalls beschäftigte auf seinem Hof in den sechziger Jahren noch einen Knecht und der hieß Adolf. Adolf muss irgendwann in den dreißiger Jahren geboren worden sein, also in jener Zeit, in der man in Deutschland seine Söhne gerne Adolf taufte und sogar Töchter gelegentlich den eigenartigen Namen Adolfine erhielten.
Unser Adolf war das, was man damals noch durchaus nicht respektlos einen Dorfdepp nannte, kurz: er war geistig ein wenig zurückgeblieben. Er war ein netter, höflicher, lustiger und liebenswerter Mensch, kinderlieb und von allen gern gesehen. In den frühen Tatort-Folgen der siebziger Jahre wäre er die Idealbesetzung für die Opferrolle gewesen: der gemeine Volkszorn hätte ihn zum natürlich unschuldigen Täter für den Mord am schönsten Mädchen des Dorfes erklärt und in den Selbstmord getrieben, ehe Komissar Finke alias Klaus Schwarzkopf gegen 21 Uhr 30 den ruchlosen verzogenen Sohn des örtlichen Bauunternehmers dann doch noch der Tat überführt hätte.
Adolf also war der Dorfdepp und Knecht, körperlich stark und roh, mit großen ein wenig schielenden braunen Augen, geistig zurückgeblieben, sozial von der Rolle und mit allen Sonderrechten ausgestattet mit denen ein Dorfdepp damals ausgestattet wurde: er durfte im Stadtlinienbus schmatzend seine Stulle verzehren und sogar aus der Bierflasche trinken und dabei dem Fahrer zuprosten. Er durfte das, er hatte ja sonst nichts.
Und er hieß Adolf.
Außer ihm gab es noch einen zweiten Adolf, einen Adolf, der seinem Namen – aus heutiger Sicht – viel eher zur Ehre gereichte.
Der zweite Adolf war Hausmeister in der Siedlung auf der anderen Seite des Dorfes. Die zweite Siedlung war die Siedlung des Fliegerhorstes aus alter Nazi-Zeit. Dort war auch die Grundschule und mein täglicher Schulweg führte durch eben jene Siedlung in der Adolf der Blockwart sein Regiment mit harter Hand und Riemen führte.
Dieser zweite Adolf hatte ein kleines Hitler-Bärtchen und nicht nur wir Kinder fürchteten ihn sehr. Er verbot uns das Spielen und das Sammeln von Kastanien, das Raufen, die Anbetung der Klassenschönsten und eigentlich alles, an was ich mich erinnern kann. Er war das absolute Gegenteil unseres Adolf. Der Hausmeister Adolf war eben ein richtiger Adolf.
Wie kann ein Dorfdepp Adolf heißen?
Ich kenne die Geschichte von Adolf dem Knecht nicht. Und als Kind dachte ich über den Namen natürlich auch nicht weiter nach. Und die Bauern waren mir in ihrer Verschlossenheit ohnehin unerklärlich und wohl auch ein wenig unheimlich. Inzwischen sind Adolf und erst recht sein Bauer schon lange tot. Und so kann ich mir meine Geschichte vom Dorfdeppen so zurechtlegen, wie sie mir gefällt:
Ich stelle mir also den Bauern vor, wie er in den dreißiger Jahren den offensichtlich blöden Buben mit dem Silberblick im Wochenbett sieht und stöhnt:
„Allmächd – a Depp. Nenn mer’n halt Adolf“.
Eine wunderschöne Geschichte!
Eine andere — zweifellos erfundene — hat sich in Österreich zugetragen: Eine Familie mit einem kleinen Sohn wohnte in einem Haus mit einer steilen Treppe in das Obergeschoss. Das kecke Söhnchen versuchte immer wieder, diese Treppe herauf zu krabbeln, was ihm auch beinahe gelang. Von der letzten Stufe stürzte der Kleine jedoch eines Tages mit einem lauten Krach auf den Boden herunter und blieb laut schreiend und mit einer blutenden Kopfwunde liegen. Der herbeigerufene Arzt versorgte den Kleinen und beruhigte die Mutter auf ihre Frage, ob von der Kopfverletzung etwas nachbleiben könne; „Nein, nein, da müssen Sie sich keine Sorge machen, Frau Hitler.“