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Ist das alles nur geklaut? (Cartoon: Mark Fiore)

Geahnt haben wir es schon lange: Computer sind an allem schuld! Vor allem aber an der jüngsten Wirtschaftskrise: „Die erste Krise des Internet-Zeitalters“, nannte sie kürzlich das Nachrichtenmagazin „Newsweek“. Automatisierte Handelssysteme hätten den Börsenkrach des Herbstes 2008 ausgelöst, weil die Investmentbanker längst die Hoheit über ihre Entscheidungen an die Maschinen abgegeben haben. Wie Goethes Zauberlehrling seien die Menschen nicht mehr in der Lage, die Komplexität des modernen Finanzmarktes zu überblicken.

In das gleiche Horn stieß schon vor Jahren der ehemalige Chef der US-Notenbank, Alan Greenspan, als er sagte: „Unternehmen scheinen gleichartiger zu agieren als früher. Die Anpassung verläuft nicht nur schneller als früher, sondern auch synchroner. Damit wird der Wandel in einen noch kürzeren Zeitrahmen gepresst.“ Auch er sah das Internet als treibende Kraft, da sie allen Managern die gleiche Information zur gleichen Zeit zur Verfügung stelle, so dass unternehmerische Entscheidungen sozusagen ohne die früher übliche Latenz ablaufen. Das sei fatal, weil es der Wirtschaftspolitik den Spielraum für Kurkorrekturen nehme.

Die Verdachtsmomente weisen also schon seit längerem in diese Richtung. Alles, was bislang fehlte, war der Beweis. Den will Charles Duhigg von den „New York Times“ aber jetzt gefunden haben. Der Bösewicht heißt „high-frequency trading“: Neuartige Computersysteme, die so groß und so teuer sind, dass sie sich nur die ganz großen Häuser wie Goldman Sachs oder JP Morgan Chase überhaupt leisten können, und die in der Lage sind, das Börsensystem sozusagen auszutricksen, indem sie in Sekundenbruchteilen Unmengen von Marktinformationen analysieren und die gewonnenen Erkenntnisse verzögerungsfrei in Hundert oder Tausende von kurzfristigen Kauf- oder Verkauforders umwandeln – lange, bevor irgendein menschlicher Börsianer überhaupt Zeit gehabt hat, darüber nachzudenken, was er als nächstes tun soll.

„Der Anstieg der Hochfrequenz-Handels hilft zu erklären, warum die Aktivitäten an den US-Börsen explosionsartig gewachsen sind“, schreibt Duhigg in der heutigen Ausgabe seines Blattes. Die Menge der täglich anfallenden Transaktionen sei seit 2005 um 164 Prozent gestiegen. Eine Handvoll superschneller Handelssysteme sei heute für mehr als die Hälfte aller Aktienkäufe verantwortlich. Und auch wenn Duhigg es nicht offen ausspricht, so wird aus seinem Bericht klar, dass er das Ganze für Betrug hält. Legal, zwar, aber unsauber.

Ein ehernes Prinzip allen Aktienhandels besagt, dass sich keiner einen Informationsvorsprung verschaffen darf. Tut er es doch, dann ist das ein so genanntes Insidergeschäft und ist eine Straftat. Wer vorher weiß, ob der Kurs eines Papiers rauf oder runter gehen wird, kann abkassieren, und zwar zu Lasten derjenigen, die sich auf öffentliche Informationsquellen verlassen. Eine wichtige Information ist die, welche Kaufaufträge gerade bei einem Börsenhändler eingegangen sind. Im Börsensaal wurden diese Order früher an eine große Tafel schrieben, die „Big Board“. Die ist inzwischen längst elektronisch, aber immer noch für alle deutlich zu sehen. Da diese Informationen natürlich auch für die Käufer interessant ist, wurden sie früher per Fernschreiber hinaus geschickt, dem berühmten „ticker“, den man als Investor für teures Geld abonnieren konnte.

Das gute, alte Papierband ist längst durch Internet-Plattformen ersetzt, aber auch diese werden gleichzeitig mit Meldungen gespeist, zum Beispiel die Zahl der Aktien eines bestimmten Unternehmens, die ein Interessent kaufen möchte, und welchen Preis er dafür zu zahlen bereit ist. Wer aufmerksam den digitalen Ticker studiert, bekommt schnell ein Gefühl dafür, wohin die Reise geht und kann seine eigenen Investitionsentscheidungen entsprechend fällen. Da jeder die Information zur gleichen Zeit erhält, ist es dem Einzelnen überlassen, was er damit anfängt. Das ist fair und schafft einen „level playing field“, auf dem derjenige gewinnt, der die richtigen Schlüsse zieht (oder die richtige Wette abgibt).

So weit, so gut. Nur gibt es in der Praxis doch eine Möglichkeit, schneller an Informationen zu kommen als andere. Es nennt sich „flash orders“: Gegen eine gar nicht so ganz kleine Gebühr kann man sich die Order, die von anderen platziert werden, im gleichen Moment wie die elektronischen Ticker-Systeme zustellen lassen. Computer sind zwar schnell, aber es dauert dennoch ein paar Sekundenbruchteile, bis die öffentlichen Systeme reagieren können. Diese Zeitdifferenz nutzen Hochfrequenz-Handelssysteme, um die zu erwartende Kursentwicklung zu antizipieren und schnell noch das entsprechende Papier zu kaufen oder zu verkaufen.

Sehr schnell: Die Latenzzeit beträgt nur rund 3 Millisekunden. Das sind 0,03 Sekunden – unvorstellbar schnell für einen Menschen, aber für einen entsprechend leistungsfähigen Computer ein Klacks! Der Vorteil, den ein Hochfrequenzhändler sich auf diese Weise verschafft, ist minimal – ein paar Centbruchteile, vielleicht. Aber multipliziert man sie mal mehrere Millionen Transaktionen am Tag, dann kommen eben zum Beispiel jene Rekordgewinne raus, die Goldman Sachs in ihrer letzten Quartalsbilanz präsentiert hat: 3,44 Milliarden US-Dollar, viel mehr, als es die Analysten vorhergesagt hatten. Nun, die hatten eben nicht die richtigen Computer.

Dennoch wird sich spätestens nach Erscheinen von Duhiggs Artikel die Frage stellen müssen, ob derartige Geschäfte den Tatbestand des Insider-Handels erfüllen, ob also das Gesetz der Gleichzeitigkeit damit unterlaufen wird. Und zwar ganz legal – vorerst, zumindest. Senator Charles E. Schumer aus New York hat sich auch schon mit einer entsprechenden Forderung zu Wort gemeldet. Jede Wette: Die Börsenaufsicht wird sich in den kommenden Wochen mit dem Thema beschäftigen. Es wird allerdings viel Mut dazu gehören, den Schnellhändlern einen Strich durch die schöne Rechnung zu machen. Denn die werden sich natürlich wehren und der SES vorwerfen, die zarte Pflanze des Aufschwungs im notleidenden Finanzsektor im Keim ersticken zu wollen.

Politisch ist das derzeit wohl kaum durchsetzbar. Und so werden ein paar ganz große Investmenthäuser weiterhin mit Hilfe der IT organisierten Börsenbetrug begehen dürfen. Und sich dafür am Jahresende wieder dicke Boni auszahlen. Bis sie die nächste Krise verursachen, aus der wir sie wieder mit unseren Steuergeldern auslösen dürfen.

2 Antworten

  1. Man kan das selber bei Ebay auch erleben, wenn andere Bieter mit Bots arbeiten, die eine Sekunde vor Auktionsende ihre Gebote reindonnern.
    Wärend man selber mit vor Aufregung geröteten Wangen seine F5 Taste quält, überbietet einen ein schnellerer Bot.
    So ist das, wenn man nicht rechtzeitig mit aufrüstet …

  2. mag ja sein, dass computer die krise „auslösen“. sie „verursachen“ sie aber nicht. der trend zur überkapitalisierung ist schon seit beginn der industrialisierung festzustellen. und „reinigende“ krisen in form von massenhafter kapitalvernichtung oder krieg halten das system langfristig am laufen. die politische kunst besteht einzig und allein darin, das privatwirtschaftliche system, das sich ja in der tat auf der einen – sonnigen – seite als unübertroffen produktiv und überlegen allokierend erwiesen hat, so in den griff zu bekommen, dass seine dunkle seite – von der grosskrise über die ausbeutung der dritten welt bis zum krieg – nicht mehr in erscheinung tritt.

    kann man die goldene seite haben, ohne die dunkle akzeptieren zu müssen? ja, unbedingt. daran glaube ich, solange das gegenteil nicht erwiesen ist und solange das, was man uns als gegenteilig so oft verkauft hat, ein menschliches antlitz immer erst verliehen bekommen muss, anstatt es als innerstes wesen eingeschrieben zu haben.

    deshalb ist das primat der politik erforderlich und deshalb erleben politische forderungen, die auf dieses primat verweisen, in der krise stets eine renaissance.
    es gilt, den tiger zu bändigen – auch wenn er sich manchmal als „scheues reh“ verkleidet. computer sind hierzu übrigens nicht vonnöten. ich plädiere auf entlastung für die gebeutelte it. sie ist unschuldig. definitiv.

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