Die Lehre der Teekanne

tea

Gelernt ist gelernt

Ich trinke jeden Morgen Tee, meistens ein feiner Formosa-Oolong, und ich trinke ihn seit einiger Zeit aus einer Teekanne, die meine Frau im Asia Shop gekauft hat. Anfangs habe beim Gießen regelmäßig eine Teepfütze auf dem Tisch verursacht und mich gefragt, wie es denn wohl unsere charmante Gastgeberin damals in der Villa des verstorbenen Panasonic-Gründers Konosuke Matsushita gemacht hat.

Wir, eine kleine Journalistengruppe, waren eingeladen, das Haus zu besichtigen, in dem der greise Firmenpatriarch die vermutlich weltweit eindrucksvollste Sammlung von japanischem Kunsthandwerk zusammengetragen hat – Miniaturmalereien, handgewebte Kimonos, Samuraischwerter, „Kamakura bori“ (lakierte Holzschalen aus der alten Shogun-Hauptstadt Kamakura) und vieles andere mehr. Lauter ausgesuchte Einzelstücke, die von „lebenden Nationalschätzen“ gemacht wurden. So heißen diese Meister ihres jeweiligen Fachs fortan, nachdem sie zu Lebzeiten in diesen staatlichen Ehrenstand erhobenen worden sind.

Es ist eine Auszeichnung, eine Einladung in die Matsushita-Villa zu bekommen, denn es darf jeden Tag nur eine einzige Besuchergruppe herein. Das niedrige Holzhaus mit dem geschwungenen, glasierten Ziegeldach steht mitten in einem Park, das selbst ein Gesamtkunstwerk bildet. Und obwohl wir niemals die weißen Kieswege verlassen oder irgendwas angerührt haben, waren mehrere Dutzend Gärtner anschließend stundenlang damit beschäftigt, die Spuren unserer Anwesenheit mit Rechen zu beseitigen und, so vermute ich jedenfalls, jedes einzelne Blatt der Kirsch- und Ahornbäume sorgfältig mit Handschuhfingern wieder an seinen angestammten Platz zu rücken, weil die Luftbewegung, die wir beim Vorbeigehen verursacht haben, sie verrückt haben könnte.

Die Japaner haben ein Wort, “Wa”, das Ruhe und inneres Gleichgewicht beschreibt. Auch Gegenstände und ganze Orte können Wa haben, so wie die Villa von Konosuke Matsushita.

Heute Morgen ist mir plötzlich aufgefallen, dass ich inzwischen offenbar die Kunst erlernt habe, fehlerfrei Tee aus einer japanischen Kanne zu gießen. Es ging kein einziger Tropfen daneben. Das Geheimnis liegt im Wa, nämlich in der ruhigen, gleichmäßigen Bewegung sowie darin, zum Schluss mit einem kleinen, eleganten Schwung aus dem Handgelenk heraus den Vorgang zu beenden. Das kann man nicht richtig erklären, man muss es fühlen, und ich habe ziemlich lange dafür gebraucht.

Ich habe sofort an die kleine Frau im grünen Kimono gedacht, die uns im Teehaus im Garten der Matsushita-Villa mit der traditionellen Teezeremonie bewirtete, und die genau die gleiche unnachahmliche Bewegung mit Hand und Kanne ausführte, wie ich es inzwischen tue. Das ist Wa in Reinkultur, eine Mischung aus Erhabenheit und Selbstdisziplin, die einem hilft, die vielen kleinen Hürden des Alltags besser zu meistern.

Mir drängt sich da aber eine ganz andere Frage auf, nämlich diese: Habe ich nun mit der Zeit gelernt, das Ausgießen zu beherrschen – oder hat vielmehr die Kanne mir beigebracht, wie ich gießen muss?

Das ist keine triviale Frage, denn es geht spätestens seit Frank Schirrmacher furchtbarem Buch “Payback” in der Diskussion über “Ich-Ermüdung” und digitale Überforderung im Kern um die Selbstbestimmung des Menschen, und hier konkret darum, ob der Mensch Herr des Computer ist oder umgekehrt. Sagt uns Google, was wir denken dürfen? Ist Multitasking eine wünschenswerte Anpassung des Menschen an eine neue Kommunikationsumgebung, oder ist es Körperverletzung, wie Schirrmacher schreibt. Oder anders formuliert: Sind wir Getriebene oder bewusst handelnde und denkende Geschöpfe, die besonders gut in der Lage sind zu adaptieren und damit auf Veränderung zu reagieren?

Ich mag Schirrmachers mechanistisches Bild des Menschen als wehrlose Opfer der Technik nicht, und ich glaube auch nicht, dass der Computer unser Gehirn “vermantscht”, um den  “Boulevardjournalisten unter den Philosophen” zu zitieren, wie Andrian Kreye den FAZ-Herausgeber in der “Süddeutschen” genannt hat. Ich halte die Vorstellung, dass sich unsere Gehirne quasi zurückbilden oder verstümmelt werden, weil wir uns ständig einer steigenden Zahl von Informations- und Kommunikationsreizen aussetzen, sogar für menschenverachtend und ein bisschen krude. Das Gehirn bildet sich nicht zurück, es bildet sich weiter. Homo sapiens ist das Produkt eines dauernden Anpassungsprozesses, der natürlich keineswegs abgeschlossen ist, sondern immer weiter geht, wohin auch immer.

Das Beispiel der Teekanne verdeutlich das, was ich sagen will: Natürlich hat die Teekanne Einfluss auf mich gehabt. Sie hat mir eine neue Fähigkeit beigebracht, meine Hand-Augen-Koordination verbessert und mir geholfen, mich besser zu beherrschen. Womöglich sind dabei irgendwelche Synapsen in meinem Gehirn neu programmiert worden. Ich war also Gegenstand eines Eingriffs in meine Persönlichkeit. Aber ich war kein wehrloses Opfer, sondern war aktiv an diesem Vorgang beteiligt.

Der Mensch lebt schon immer in Symbiose mit seinen Werkzeugen. Indem er immer intelligentere Werkzeuge ersinnt und einsetzt, verändert er sich. Das ist ein natürlicher Vorgang, und er ist wertfrei. Der Fehler, den auch Schirrmacher begeht, besteht darin, diesem Vorgang ein Attribut zu geben. Ein typisches Beispiel ist die Vorstellung von “Fortschritt” (als ob der Mensch seit Anbeginn seiner Geschichte auf dem Weg zu einem klar definierten Endziel voran schreitet). Ein anderes ist die von durch Technik induzierte Degeneration, Schirrmachers “vermanschtes” Gehirn.

Der von Schirrmacher aus dem Kontext zitierte amerikanische Serien-Entrepreneur und Buchautor Ray Kurzweil, der alles andere als ein überforderter Technikfeind ist, glaubt sogar, dass wir auf dem Weg zu “Homo sapiens 2.0″ sind, weil wir demnächst in der Lage sein werden, durch das Implantieren künstlich hergestellter Gehirnzellen uns in eine Rasse von “superintelligenten” Wesen zu verwandeln. Diese Vorstellung beunruhigt mich viel mehr als Schirrmachers paranoide Fantasien . Wenn wir Intelligenz züchten können, was bedeutet das für unsere Gesellschaft? Was, wenn sich nur Reiche solches nachträgliche Gehirnaufrüsten leisten können? Hatte Aldous Huxley recht, als er 1932 in “Schöne neue Welt” eine Gesellschaft beschrieb, in der eine kleine Elite die Informationshoheit besitzt und das Volk mit reichlich Soma und Trivialunterhaltung zu willfährigen Arbeitstieren degradiert wird?

Schirrmacher spricht vom “Taylorismus”, der dem Multitasking zugrunde liegt. Huxley hat uns dafür lange vorher den Begriff des “Fordismus” geschenkt, also einer Welt, in der alles nach dem Prinzip der Arbeitsteilung und der Fließbandproduktion abläuft. Sogar eine neue Zeiteinteilung hat er erfunden, “AF” für “After Ford”. Schirrmacher würde wohl von “AT” sprechen für “After Taylor”.

Huxleys Buch wurde übrigens gleich nach dem Erscheinen in Irland verboten. Später zogen die Schulbehörden in Missouri und Kalifornien nach, und zwar mit der Begründung, das Buch “drehe sich um negative Aktivität”. Schirrmacher ist ein Meister des negativen Denkens. Ich wünsche ihm dennoch nicht, dass sein Buch verbannt wird. Es würde genügen, wenn man es verramscht – oder von mir aus vermanscht. Ich werde inzwischen abwarten. Und Tee trinken.

Eine Antwort

  1. Erstaunlich, dass es oft die besten Artikel sind, die die wenigsten Kommentare bekommen. Dann will ich hiermit mal diese Regel durchbrechen und einen ansonsten völlig sinnfreien Kommentar hier anhängen…

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