Die zehnte Plattenkiste: Mondgesänge, Tango, Musik der Roma, First Nation und der Kinski der Tasten

Aus der zehnten Plattenkiste habe ich einen bunten Reigen Vinyl herausgefischt: mit Buffy Saint Marie singt eine Indigene, die keine war, in Saintes-Maries-de-la-Mer tanzen echte Roma am Strand, Carl Orff klaut den Mond in der Oper, Dino Saluzzi schmachtet am Bandoneon und Glenn Gould gibt den Kinski an den Tasten.

Buffy Sainte-Marie: The Very Best of

Buffy Sainte-Marie wurde in den 60iger Jahren international bekannt als Liedermacherin und Aktivistin, die sich für die Interessen der First Nation in Canada und den USA einsetzte. Sie schrieb zahlreiche Lieder über die Geschichte und das Schicksal der indigenen Ureinwohner Amerikas und positionierte sich als Kind von Cree-Eltern, geboren im Reservat Piapot 75. Als indigene Künstlerin erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen für ihr künstlerisches Schaffen und ihr gesellschaftliches Engagement. Ich war (und bin) seit den siebziger Jahren ein großer Fan ihrer Arbeit und Musik.

Im vergangenen Jahr kam heraus, dass ihre tatsächliche Biographie aber eine ganz andere ist: Buffy Sainte-Marie wurde tatsächlich 1941 als Tochter eines us-amerikanisches Ehepaars geboren. Ihr Vater stammt aus Italien, ihre Mutter ist britischer Abstammung. Auf Grund der starken antiitalienischen Stimmung in den USA nach dem Zweiten Weltkrieg änderte die Familie ihren Nachnamen von Santamaria in Sainte-Marie. Der Stamm der Cree erklärt sie noch immer als ihr Mitglied, unabhängig von irgendwelchen Erbanlagen. Buffy erklärte nach dem Skandal, den die Veröffentlichung ihrer Geburtsurkunde verursachte, dass ihre Mutter ihr einst erklärt habe, sie sei eine adopierte indigene Ureinwohnerin, sie könne ihre Herkunft aber nicht beweisen. Heute deutet aber alles auf eine gefälschte Biographie hin.
In den frühen 60iger Jahren kam Buffy Sainte-Marie nicht nur mit Folk- und Musik-Größen wie Joni Mitchell und Neil Young in Berührung, sondern auch mit Vertretern der indigenen Bevölkerung. Es entstanden Lieder wie „Now That the Buffalo’s Gone“ und „My Country ‚Tis of Thy People You’re Dying“, die im US-Fernsehen für lebhafte Debatten sorgten. Damals kam es gerade zu neuen Landenteignungen, weil in einigen Reservaten Uranvorkommen entdeckt worden waren.

Die Kultur der First Nation, Landenteignung und die kulturelle Enteignung der Ureinwohner wurden zunehmend zum Thema der Studenten- und Friedensbewegung. Mit der Gruppe „Buffalo Springfield“ entdeckte damals auch Neil Young seine Leidenschaft für die Indigenen. Heute würde man das vermutlich „übergriffig“ nennen. Ich meine, es war sowohl eine Form des musikalischen Eskapismus, wie auch eine ehrliche Solidarisierung mit einer ausgebeuteten Minderheit.

Die Identifikation mit der First Nation ging bei Buffy Sainte-Marie soweit, dass sie sich irgendwann selbst als ihr Teil verstand. Dieses Phänomen der Überidentifikation mit den Opfern kennen gerade wir Deutschen nur zu gut unter dem Stichwort der „phantastischen Gesellschaft“: viele nicht-jüdische Deutsche geben sich als Juden aus – und halten sich auch wirklich für jüdisch – als Resultat einer Überidentifikation mit den Opfern deutscher Geschichte. Dieser Prozess der Überidentifikation funktioniert – vorausgesetzt die Betroffenen sind zu starker Empathie fähig – auch mit dem Schicksal der Indigenen. Bei Buffy Sainte-Marie hat er funktioniert.

Sie setzte sich nicht nur für die Indigenen ein, sondern auch für die Friedensbewegung (sie schrieb das bekannte Lied „Universal Soldier“) und für Migranten und andere sozial Benachteiligte. Auf der Doppel-LP „The Very Best Of“ findet sich auch einer meiner Lieblings-Songs: „Welcome, Welcome Emigrante“. Dieses Lied hat nichts von seiner Aktualität eingebüßt. Deshalb möchte ich Euch hier den Text vorstellen:

„Oh welcome, welcome emigrante
To my country, welcome home
Welcome, welcome emigrante
To the country that I love

I am proud, I am proud
I am proud of my forefathers and I say
They built this country
And they came from far away
To a land they didn’t know
The same way you did, my friend

So welcome, welcome emigrante …

I am proud, I am proud
I am proud of my forefathers and I say
About their courage
For they spoke a foreign language
And they labored with theirs hands
The same way you did, my friend

So welcome, welcome emigrante …“

Les Romanis aux Saintes Maries de la Mer

1976 verbrachte ich den Sommer mit zwei Freunden in Les Saintes Maries de la Mer. Natürlich waren wir nicht auf dem Campingplatz, sondern wir haben unseren alten Käfer hinten links am damals noch frei zugänglichen Sandstrand abgestellt und einfach unser Zelt daneben aufgebaut. Geschlafen haben wir allerdings neben dem Zelt. Zu finden waren wir sehr leicht: hinter dem Berg leerer Bier- und Weinflaschen. Zu hören waren wir ebenfalls leicht: ich an der Gitarre und hinter der Mundharmonika, meistens gab es Neil Young und wenn ich zu betrunken oder anderweitig beschäftigt war kam aus einem alten Kassettenrekorder mehr oder weniger psychedelische Musik („Rat der Motten“ und so …).

Und dann war da noch Isabelle aus dem Perigord und vom Zelt nebenan. Aber das gehört jetzt nicht hierher, war aber ein Grund für weitere Besuche in späteren Jahren. Und dann spielte diese Musik eine immer größere Rolle: „Les Romanis aux Saintes Maries de la Mer“, die Musik der Sinti und Roma von ihrer jährlich im Mai stattfindenden Wallfahrt in die kleine Stadt an der Mündung der Rhone ins Mittelmeer.

Die Platte erschien schon 1963 auf dem Label „Le Chant Du Monde“ und ich höre sie noch immer gerne bei einem Glas – nein: bei einer Flasche – Côtes du Rhone. Auf der Platte sind Lieder der Sinti und vor allem Roma verewigt, die in Saintes Marie nicht eine der drei heiligen Marien (Maria Magdalena, Maria Salome und Maria Kleophas) feiern, sondern ihre Heilige, die dunkelhäutige Sara, die der Legende zu Folge Maria Magdalena nach dem Tod Jesu begleitet hat und hier an der Südküste Frankreichs gestrandet ist und die in der kleinen Kirche des Ortes verehrt wird.

Die Musik ist sehr authentische Roma-Musik und die Quelle des ganzen modernen Gipsy-Sound inklusive der eher jazzigen oder Rhumba-Varianten. Heute ist die Wallfahrt, die seit dem 16. Jahrhundert belegt ist, ein großes Touristenspektakel. In den 60iger und 70iger Jahren war das noch ein wenig anders. Die Platte erinnert daran. Und auch an Isabelle …

1976 in Saintes-Maries

Dino Saluzzi: Mojotoro

Ganz schön lange her, dass ich Dino Saluzzi live gehört habe. Ein begnadeter Banoneonspieler. Ich kenne ihn von seinen Auftritten mit Charlie Mariano und Wolfgang Dauner, also mit den großartigen Jazzern. Mojotoro hat er 1991 in Buenos Aires aufgenommen, gemeinsam mit seinen Brüdern Celso und Felix und seinem Sohn José Maria, den ich vor Jahren auch in Deutschland bei seinem Auftritt in Unterschleißheim bei München gehört habe. Mojotoro ist eine eher stille Platte, ewas für den Rotwein von der schwereren Sorte als Begleitgetränk. Der „Tango a mi padre“ und die meisten anderen Songs kommen schwermütig daher, voller Nostalgie. Das Jazz-Echo schrieb einmal: „Wenn man Dino Saluzzi solo spielen hört, ist es, als höre man ihm beim lauten Nachdenken zu. Denn dann spürt der 85-Jährige in seiner Musik den Aspekten eines langen Lebens nach und sinniert über Freundschaften sowie Spirituelles, wobei er sich sowohl von der Kunst als auch von der Alltagsrealität inspirieren lässt. Wie der Schriftsteller Jorge Luis Borges, der eine seiner fortdauernden Referenzen ist, verbindet Saluzzi bei der Erschaffung seiner eigenen Welt Erinnerungen, Meditationen und phantasievolle Ausbrüche miteinander.“ Stimmt. Saluzzi ist der große Geschichtenerzähler am Bandoeon. Und Mojotoro ist eine gespielte und gesungene Märchenplatte. Hörempfehlung für einen einsamen Abend.

Carl Orff: Der Mond

Diese Platte versammelt einen Querschnitt einer Aufnahme des Philharmonia Orchester London unter Wolfgang Sawallisch. Es singen u.a. Karl-Schmitt-Walter, Helmut Graml, Paul Kuen und Peter Lagger (vier Burschen), Hans Hotter (Petrus), Rudolf Christ (Erzähler), Willy Rösner (Wirt) und Albrecht Peter (ein Bauer).

Die Oper entstand 1937/38. Orff selbst hat diese kleine einaktige Oper als „kleines Welttheater“ bezeichnet. Die Geschichte basiert auf dem gleichnamigen Grimmschen Märchen und ist schnell erzählt: Vier Burschen wohnen in einem Land ohne Mond, ziehen fort und kommen in ein Land, in dem auf einem Baum eine in der Nacht leuchtende Kugel hängt. Sie klauen das Ding und nehmen es mit nachhause. Gegen Geld lassen sie zuhause die Kugel jede Nacht erstrahlen, damit die finstere Nacht ein wenig heller wird. Als sie alt werden beschließen sie, dass bei ihrem Tod jeder von ihnen ein Viertel der Kugel mit ins Grab nehmen soll. So gelangt die Kugel in die Unterwelt. Dort erweckt das Licht die Toten. Diese beginnen ein wenig zu feiern, was den strengen Petrus im Himmel arg irritiert. Er befürchtet einen Aufstand der Unterwelt und schickt seine Heerscharen ins Reich der Toten. Schließlich beruhigt Petrus die aufmüpfigen Untoten und nimmt das Licht sicherheitshalber mit in den Himmel, wo er die Lampe ans Firmament hängt. Seitdem hängt das Ding als Mond am Himmel.

Musikalisch war der Mond wie auch andere Werke Orffs nie unumstritten. Manche haben Orff musikalischen Primitivismus vorgeworfen, eine Mischung aus nordischer Götterverehrung und schlichter Überhöhung germanischer Volksmusik. Gerade die vorliegende Fassung mit Hotter als Petrus klingt in der Tat ein wenig nach wägend-wotan-weisem Wagner, während etwa die Version von Kurt Eichhorn mit dem Münchner Rundfunkorchester sehr viel mehr nach … ja nach was eigentlich? klingt. Jedenfalls ist es spannend Eichhorn gegen Sawallisch zu hören, Orff II gegen Orff I sozusagen. Es soll ja auch zwei Monde geben … – ach nein, das waren die Nebensonnen bei Schubert …

Glenn Gould plays his own Transcriptions of Wagner

Ich habe ja die Einführungsvorträge von Stefan Mickisch in die Werke Richard Wagners immer sehr genossen und bedauere es zutiefst, dass sich dieser großartige Wagner-Kenner und Pianist im Zuge der Pandemie so unheilvoll verrannt und schließlich das Leben genommen hat. Er war eben nicht nur ein Wagner-Kenner, sondern auch ein hervorragender Pianist. Der Wagnerschen Motivik solo auf dem Flügel zu folgen war während der Vorträge von Mickisch immer ein Hochgenuss. Seine CDs höre ich noch immer gerne. Und deshalb falle ich jetzt gleich mit dem Flügel ins Haus: Gegen Mickisch ist Glenn Gould einfach zu viel Theater und zu wenig Empathie. Nicht dass der alte Brummbär ein schlechter Pianist wäre. Er ist der Klaus Kinski der Tasten, ein Zauberer, ein Derwisch, der wild über die Klaviatur und durch die Notenabgründe Wagners fegt. Das hat schon was. Aber ein wenig mehr analytische Zurückhaltung wäre mir lieber.

In Siegfrieds Idyll verzehrt sich der alte Brummbär wie Kinski sich nach Villons Erdbeermund verzehrt. Es ist einfach zu viel des Guten. Seine Meistersinger sind eine athletische Fingerübung für einen geflügelten Großmeister. Das ist sehr perfekte Spielkunst, aber es erklärt nichts und es hat wenig mit Wagner zu tun, ein Paganini des Flügels. Trotzdem muss man diese Platte haben, wenn man sich für Wagner interessiert und auch für Glenn Gould. Mit seiner Einspielung der Goldberg-Variationen – der ersten wohlgemerkt, der von 1955 – hat der Mann einfach Geschichte geschrieben. Seine Publikumsbeschimpfungen („die in die sechste Reihe gequetschten Huster, Flüsterer und Klatscher“) sind legendär und machen ihn liebenswert wie sonst nur Thomas Bernhard. Also Freunde des Brummtons: diese Platte muss auf den Teller. Es gibt Schmackhafteres, aber man muss da durch. Glenn Gould spielt und brummt das Vorspiel zu den Meistersingern, die Götterdämmerung und Siegfrieds Idyll.

Illustrationen © Michael Kausch

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