Die zwölfte Plattenkiste. Molliges für den Herbst

Es wird Herbst im Plattenland. Da dürfen sich auch Platten ein wenig langsamer drehen. Oder sie dürfen ein wenig depressiver klingen. Oder älter. Ich hab das mal bei meiner aktuellen Auswahl für die zwölfte Plattenkiste berücksichtigt: eine 16 RPM mit Sidney Bechet, ein Alterswerk von Bob Dylan, die Kindertotenlieder von Mahler, seltsames von Jack White, Sounds of Silence und mehr aus dem Park von Simon & Garfunkel und das berühmteste langweiligste eDe.

Sidney Bechet: En 16 Tours.

Ziemlicher Slowfox. Also die Platte dreht eher langsam, mit 16 ⅔ RPM. Das kann nicht jeder Spieler. Für solche Spezialfälle hab ich einen uralten EMUD Phono rekord 59 aus dem Jahr, der Name sagt es ja schon, 1959. Der eingebaute Plattenspieler SC30 NG1270 /75a von Philips mit Kristallsystem AG3019 am windschlüpfrigem Tonarm ist eine hüfthalterfarbene Designikone, gerade richtig für Sidney Bechet, der ausgerechnet 1959 verstorben ist.

Bechet spielte Sopransax und Klarinette und war zu seiner Zeit fast ebenso berühmt wie Louis Armstrong an der Trompete. Geboren in New Orleans lag ihm die Musik und der frühe Jazz im kreolischen Blut. Auf der Flucht vor dem üblen US-Rassismus spielte er in den 20iger Jahren vor allem in Europa, vor allem in Paris und im wilden Berlin der 20iger. Die gute Zeit in Deutschland war ja 1933 auch vorbei und er spielte wieder öfter in Amerika. Nach dem Krieg fand er in Deutschland zurück zu seiner alten Liebe, einer Frankfurterin mit Namen Elisabeth Ziegler, die er sogar heiratete. Ein wunderbarer Jazzer, der irgendwie in seiner Musik europäische, us-amerikanische und südamerikanische Einflusse zusammenbrachte. In meiner EMUD-Musiktruhe fühlt er sich sehr zuhause, wenn er langsam seine Runden dreht, mit 16 rpm …

Bob Dylan: Rough And Rowdy Ways

In letzter Zeit war er ja wieder viel im Radzu hören. Und viele meiner Freunde waren in Nürnberg live dabei, als er in der Frankenhalle auftrat. Er spielte auch einiges von dieser Platte, die bei mir im Regal steht und offen gestanden eher selten gespielt wird.

Müssen Alterswerke eigentlich immer wie Alterswerke klingen? Vermutlich ja. Bob Dylans Platte mit dem Titel „Rough And Rowdy Ways“ klingt … äh … na ja, wie man sich ein Alterswerk vom alten Meister eben erwartet: altersmild. Noch mal eine halbe Oktave tiefer gesungen als früher, nochmal schleppender hinter dem Takt her hechelnd, musikalisch eher wenig innovativ. Passt zu jedem guten Rotwein. Kann man hören, muss man aber nicht.

Passt zu den American Recordings von Johnny Cash, von denen man drei oder vier haben MUSS, aber definitiv nicht ALLE, zum Spätwerk von Cohen, das „nett“ ist und respekterheischend. Bei „Whistle Down the Wind“ von Joan Baez merkt man zumindest, dass sie zwar ihre Stimme verloren hat, aber dafür mit siebzig Jahren nochmal Gesangsunterricht nimmt. Der Einzige, der als alter Mann wirklich nochmal richtig Neues macht ist – alle mal herhören – Wolf Biermann! Bei dem war ich vor Monaten im Konzert und der hat kaum mehr Stimme, aber der – sorry! – scheißt sich nix, sondern macht sich einen Spaß auf der Bühne mit Pamela Biermann und den tollen Jazz-Opas vom Zentralquartett, dass es eine Freude ist. Ganz großer Kindergarten.

Stattdessen, na ja, eben Bob Dylan. Aber gut: ich mach Euch einen Vorschlag: legt die Platte von Dylan auf, die CD von Biermann („paar eckige Runden drehn“) ein (https://www.wolf-biermann.de) und schaltet die Quellenwahl auf den CD-Spieler: Ihr werdet eine tolle Stunde Spaß haben. Versprochen

Gustav Mahler: Kindertotenlieder und 4 Rückert-Lieder

Gustav Mahler: Kindertotenlieder und 4 Rückert-Lieder. Mit Dietrich Fischer-Dieskau und den Berliner Philharmonikern unter Karl Böhm.

Na gut, Stimmungsmusik für einen heiteren Grillabend klingt anders. Aber ich bin vernarrt in diese Musik. Auch wenn der Anlass todtraurig ist. Mehr als 400 Kindertotengedichte verfasste Friedrich Rückert nach dem Ableben von zwei seiner Kinder. Fünf dieser bitteren Gedichte hat Gustav Mahler adäquat schwermütig vertont. Kaum waren die Kompositionen fertig verstarb auch schon seine Tochter Maria-Anna an Scharlach. „Oft denk ich, sie sind nur ausgegangen …“ Eine schwere Musik, voll von Abschied und Trauer.

Die Texte sind bei dieser Musik so überaus wichtig, dass es mir wohltuend scheint, dass bei dieser Aufnahme mit Dietrich Fischer-Dieskau eben der Bariton am Mikrofon steht, der über die vielleicht sauberste Intonation verfügt. Und die Deutsche Grammophon hat bei Aufnahme und Produktion der Platte ganz offenbar allergrößte Sorgfalt walten lassen. Mir ist keine Aufnahme bekannt, die sprachverständlicher ist, als die hier vorliegende. Trotzdem gleitet die Musik niemals ins Analytische ab. Eine großartige Aufnahme einer wunderbaren Musik.

Eines der vertonten Rückert-Gedichte mag dem ein oder anderen von Euch bekannt vorkommen. Darin beschreibt Rückert unzweifelhaft und in weiser Vorahnung mich vor dem Plattenspieler 😉

„Ich bin der Welt abhanden gekommen,
Mit der ich sonst viele Zeit verdorben.
Sie hat so lange von mir nichts vernommen,
Sie mag wohl glauben, ich sei gestorben.

Es ist mir auch gar nichts daran gelegen,
Ob sie mich für gestorben hält;
Ich kann auch gar nichts sagen dagegen,
Denn wirklich bin ich gestorben der Welt.

Ich bin gestorben dem Weltgewimmel
Und ruh’ in einem stillen Gebiet.
Ich leb’ in mir und meinem Himmel,
In meinem Lieben, in meinem Lied.“

Genau. Ich geh jetzt Platten hören. Schluss mit Schreiben. Es gibt Wichtigeres zu tun. Ich will ein wenig der Welt abhanden kommen … 😉

Jack White: Lazaretto

Lazaretto ist das zweite Solo-Album von Jack White, einem der, laut Rolling Stone, 100 besten Gitarristen „of All Time“. Er ist aber auch Schlagzeuger und Produzent und produzierte zum Beispiel mit Alicia Key den Titelsong zum Bond-Film „Quantum of Solace“.

Lazaretto erschien am 6. Juni 2014 und ist in vielfacher Hinsicht absonderlich. Die A-Seite läuft von innen nach außen. Die Auslaufrillen sind auf beiden Seiten Endlosschleifen. Die B-Seite hat zwei verschiedene Einlaufrillen und damit verbunden zwei verschiedene Song-Intros. Das nennt man Dual Groove: eine Intro ist elektrisch, eine akustisch. Und dann versteckt Jack White auch noch Songs auf der Platte – einen mit 45, einen mit 78 rpm. Die perfekte Osterplatte. Viel Spaß beim Eiersuchen … Ich verrate nicht, wo Ihr sie findet.

Jack White ist ein Wandler zwischen den Welten, also zwischen der Welt des Analogen und des Digitalen. Aufnahmetechnisch ist das Ganze höchst spannend. Die Aufnahmetechnik ist eine Mischung aus digitaler und analoger Technik. Es wurde mit klassischem Band und ProTools gearbeitet. Es wurden aber nur sehr wenige Effekte mit Pro Tools eingebaut. Toningenieur Josh Smith erzählt, dass er nur bei „Black Bat Liquorice“ im Computer mit Bitcrusher- und Stereo-Verbreiterungs-Plugins auf den Drums herumgespielt hat. Dadurch würde das Schlagzeug sehr breit und verzerrt klingen. Diesen Sound habe man dann wieder aufs Band übertragen. Wie alle Instrumene wurde auch das Schlagzeug mono aufgenommen und dann auseinandergespannt.

Im Ergebnis klingt Lazaretto extrem dicht und homogen. Schöne Melodien, harte Riffs, der jaulende Gesang Jack Whites, alles eine einzigartige Melange aus klassischem Blues und tänzelndem Hiphop. Und die Texte? ach ja: das sind ehrliche Arbeiterlieder, eben Blues vom feinsten. Aufrichtige und ehrliche Songs von einem, der sein Metier und seine Zuhörer ernst nimmt, vielleicht ernster, als sich selbst. Blues ist immer auch die Musik von Aussätzigen, von Leuten, die vor der Tür stehen. Deshalb passt auch der Titel der Platte:

Lazaretto, so nannte man früher die Aussätzigenhospitale für Seereisende. Darin versteckte man die Ansteckenden und auf der Reise verrückt gewordenen. Jack White ist ein wenig verrückt. Jedenfalls verrückt genug Neil Young dazu zu überreden ein Album in einer umgebauten Telefonzelle aufzunehmen (Habe ich „A Letter Home“ eigentlich schon mal vorgestellt? Nein? Dann muss ich das dringend nachholen. Die Platte habe ich. Und ich habe eine alte Telefonzelle im Garten. Vielleicht sollte ich das dort schreiben …). Und er ist so verrückt, ein Sample mit Carl Sagan und Stephen Hawking in einem Ballon auf Vinyl abzuspielen, und zwar in de Stratosphäre in 29 Kilometer Höhe. Über die Zuhörer ist nichts bekannt. Was für ein Vogel …

Simon and Garfunkel: The Concert in Central Park

9-11 ist natürlich ein furchtbarer Erinnerungstag für alle New Yorker. Aber 19-11 ist für die etwas älteren ebenfalls ein Datum, das sich eingebrannt hat in die Hirne und Herzen. Denn am 19. September 1981 versammelten sich 500.000 (!) Menschen im Central Park um dem größten Gesangsduo aller Zeiten zuzuhöen: Paul Simon und Art Garfunkel traten nach Jahren der Trennung erstmals wieder gemeinsam auf um ihre alten Lieder zu singen: „Mrs Robinson“, „The Sound of Silence“, „Bridge over Troubled Water“ und natürlich „The only living Boy in New York“.

Der Anlass dieser Reunion war dramatisch: New York war pleite und Bürgermeister Ed Koch hatte angekündigt den Central Park den ortsansässigen Immobilien-Haien (zum Beispiel Trump senior) zum Fraß vorzuwerfen. Die Stadt brauchte dringend Geld und im Central Park herrschten ja ohnehin die Drogenhändler. Einige Leute waren auf die Idee gekommen Simon und Garfunkel zu einem Gratiskonzert im Park zu überreden. Und selbst die meisten Arbeiter – Putzkolonnen und Ersthelfer – leisteten ihren Einsatz kostenlos, um die Musik zu hören und um für den Erhalt des Central Park zu demonstrieren. So erklärt sich auch die berühmte Dankrede Paul Simons während des Konzerts, ebenfalls auf der Platte dokumentiert.

Tatsächlich flossen die Spenden für den Erhalt des Central Parcs nach dem Konzert und das Herz der Stadt wurde gerettet.
Das Konzert wurde im Fernsehen übertragen, mitgeschnitten und im Februar 1982 von Warner Brothers auf Schallplatte gepresst. Ich habe die LP, eine CD, einen HD-Download und einen Video-Mitschnitt. Und ich muss gestehen, dass die HD-Version die Qualität der LP übertrifft. Aber wie auch immer: das Konzert ist einmalig. Und Simon & Garfunkel sind für mich eine heftige Erinnerung an meine Jugend und an eine großartige Zeit. Und im Central Park habe ich mich vor vielen Jahren extra an den Maschendrahtzaun am Reservoir gesetzt, da wo sich die beiden für ihr Greatest Hits Album haben ablichten lassen.

Uriah Heep: Salisbury

E-Moll D-Dur E-Moll – Das hatte ja nun wirklich jeder drauf, der wusste, dass eine Gitarre sechs Saiten hat, die man mit ai schrieb und nicht mit ei. „Aaahh ahhh ahhh“. Die schwarze Lady heulte jeder am Lagerfeuer, selbst wenn er schon erheblich zuviel vom billigen Lambrusco drin hatte. „Lady in Black“, der Gassenhauer der frühen Siebziger, die Roy-Black-Schnulze für den Langhaar-Träger. Ich war dabei. Schulterlang. Aber klar doch. Ken Hensley, der Keyboarder von Uriah Heep musste, so will es die Legende, den Song selbst singen, weil der Song dem Leadsänger David Byron einfach zu blöd war. Ken hat einmal erzählt, dass er zu diesem Lied inspiriert wurde, als er durch das Fenster seines Hotels ein junges Mädchen gesehen habe. Und zwar „in München“. Die Lady in Black war vermutlich eine Münchnerin. Kein Wunder, dass man zu diesem Song schunkeln kann. Eigentlich ein Lied fürs Oktoberfest …

Die Platte ist natürlich trotzdem unbedingt hörenswert. Schon wegen des Titelsongs „Salisbury“.
Auf dem Cover des Albums ist ein britischer Chieftain Panzer abgebildet, wie er auf dem Truppenübungsplatz Salisbury Plain damals immer herumfuhr. Er illustriert also den Titelsong der Platte. Der Song dauert über eine Viertel Stunde und hat alles was einen Prog-Rock-Song ausmacht: ein langes Gitarren-Solo, einen Bläser-Part, ein fetter Orgel-Sound, zahlreiche Breaks und Stimmungswechsel und eine ausgeklügelte Harmonik. Ich halte Salisbury für das beste Stück, das die Band jemals produziert hat. Und auch das ist natürlich ein Schmachtfetzen von Liebeslyrik:

„Somewhere in your eye, that very special glow.
Something drawing me, to where, I do not know.
I never really thought that I would lose myself.
But now I′m going faster than anybody else.
You move without a sound and touch me with your hand
Just like the rays that fondle every grain of sand.
This thing we’re gonna do, it’s just for you and me.
I′m gonna make it good, just you wait and see.“

Ok baby, let’s do it now …

Illustrationen © Michael Kausch

Vielen Dank für dein Interesse an diesem Beitrag. Wenn er dir gefallen hat würde ich mich über ein LIKE freuen. Oder teile ihn doch mit deinen Freunden über ein soziales Netzwerk. Und am meisten freue ich mich natürlich über Kommentare, Kritik und Anregungen.

Weitere interessante Artikel

2 Antworten

  1. Du hast die Gedanken schön formuliert und daran halte ich mich jetzt, zumal du ja Platten präsentiert hast, die wundervoll sind: Genau. Ich geh jetzt Platten hören. Schluss mit Schreiben. Es gibt Wichtigeres zu tun. Ich will ein wenig der Welt abhanden kommen …

  2. Salisbury ist ein bemerkenswertes Album und der Song, den ich durch meine späte Geburt natürlich erst später entdeckte, eine regelrechte Offenbarung.
    Ich höre es heute noch regelmäßig und zwar richtig laut. Und das hat rein gar nichts mit dem altersgemäß nachlassendem Gehör zu tun, wie böse Zungen immer wieder behaupten.

    There′s a line, in a rhyme…

Kommentar verfassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.