Ich weiß nicht, warum ich nicht schon längst darauf gekommen bin. Die Lösung des Problems der digitalen Völlerei ist doch ganz einfach: digitales Fasten! Verzichten wir auf Surfen, Blogs und E-Mail, zumindest für ein paar Wochen im Jahr. Kein Twitter, kein Facebook. Stattdessen mal wieder ein richtiges Buch lesen. Und schon: Bingo! Keine Kognitivkrise mehr, keine Ich-Entfremdung. Das zermanschte Gehirn kann sich regenerieren, die verlorene Denkfähigkeit kehrt zurück und sogar Frank Schirrmachers Kopf kommt wieder mit. Einfach genial!
Gut, es gibt ein paar Probleme. Die Arbeit bleibt liegen, die Freunde sind verärgert, weil sie keine Antwort mehr auf ihre Mails bekommen, die Kunden beschweren sich beim Chef, weil die Bestellung liegen geblieben ist. Aber vielleicht liegt das Problem in der Wahl des religiösen Vorbilds!
Überzeugte Katholiken fasten ja durchgehend von Aschermittwoch bis Ostern, verzichten sieben Wochen lang auf Fleischspeisen sowie auf Tanzveranstaltungen und gedenken damit des 40-tägigen Fastens Ihres Vorbilds Jesus, der sich laut Matthäus und Lukas damit auf sein öffentliches Wirken vorbereitete.
Das ist hart – zu hart, wie ich finde. Da lobe ich mir die Muslims, die während des Ramadan lediglich tagsüber auf Fleisch und meistens sogar auf jeden fleischlichen Genuss verzichten. Abends ist dann Sause angesagt! Sobald in Kairo die Kanone offiziell den Sonnenuntergang verkündet, bleiben die Autofahrer mitten auf der Straße stehen und eilen in die umliegenden Kneipen, um den ersten Heißhunger zu stillen. Nachts werden dann Schafe am Spieß gebraten und auch sonst wird ganz schön über die Stränge geschlagen. Das könnten wir doch auch übernehmen: Tagsüber am besten im Bett bleiben, dafür abends surfen, bis der Arzt kommt!
Oder wir wenden uns den Orthodoxen zu, die drei verschiedene Stufen des Fastens kennen: „Strenges Fasten“ (ganz vegan, außer Honig dürfen keinerlei tierische Produkte, außerdem kein Öl und kein noch Alkohol), „leichtes Fasten“ (Wein, Öl und Weichtiere erlaubt) oder „Fisch-Fasten“ (zusätzlich darf man noch Fisch essen). Im Übrigen hat der Gläubige seine Fastenregeln mit Gott, sich selbst und seinem Priester oder Beichtvater abklären, was eine gewisse Flexibilität ermöglicht.
Der Online-Filmer Kirby Ferguson arbeitet laut ZDF nach dieser Methode, die er „Slow-Media-Diät“ nennt. „Es geht dabei nicht um Technologien“ erklärt er, „sondern um Geschwindigkeit.“ Deshalb seien bei ihm zum Beispiel Audio-Podcasts erlaubt, aber RSS-Feeds tabu. Das Verzichts-Erlebnis habe sein Leben auch außerhalb der Fastenzeit verändert, berichtet er: „Mit dem Twittern werde ich ganz aufhören, das hat mir gar nicht gefehlt. Bei Webseiten und Blogs bin ich aufmerksamer, investiere lieber mehr Zeit in wirklich gute Sachen.“
Ich halte das digitale Fasten grundsätzlich für eine gute Sache, warne aber jetzt schon vor den mannigfaltigen Versuchungen, denen sich der digitale Asket aussetzt. „Der Geist ist willig, doch das Fleisch ist schwach“ gilt für Digerati natürlich genauso wie für normale Menschen.
Der unvergessene schwäbische Dichter Thaddäus Troll berichtet davon, dass die Brüder des Klosters Maulbronn die Maultasche als „Herrgotts B’scheisserle“ erfanden, weil der da oben nicht sehen konnte, dass die Teigtaschen, die sie zu sich nahmen, in Wirklichkeit mit Fleischbrät gefüllt waren. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt! Der Kardinal von Bologna ließ 1536 gekochte Seekrabben mit Granatapfelkernen, Thunfischauflauf und Marzipankuchen und andere Leckereien während der Fastenzeit auftischen. Verboten waren ja schließlich nur Fleisch, Eier und Milchprodukte. Und als der bayerische Braumeister Bruder Barnabas vor mehr als 300 Jahren erstmals sein „Sankt-Vater-Bier“ ausschenkte, handelte es sich um nichts anderes als „Fastenbier“, das gebraut wurde, um die strengen Regeln des vorösterlichen Fastens zu umgehen.
Was wir brauchen ist also eine Art „digitale Maultasche“, mit der sich das strenge Online-Verbot vielleicht ein wenig umgehen läßt. Der geneigte Leser wird sicher seine eigene Vorstellungen dazu entwickeln wollen – Internet-Nutzer sind schließlich nichts wenn nicht erfinderisch! Ich selbst könnte mir vorstellen, dass beispielsweise meine Frau für mich E-Mails ziehen und ausdrucken könnte. Aber halt: So machen es ja heute schon viele deutsche Chefs, auch ohne Fastenzwang.
Vielleicht werde ich mich einfach selbst überreden, dass sich digitales Fasten nur auf den Umgang mit richtigen Computern bezieht. Ich habe ja noch ein iPhone, Gott sei Dank! Und wenn ich das Ding unter dem Tisch anmache, sieht er es vielleicht auch gar nicht…
Hihi – ausgezeichnet! Um die Geschichte von Bruder Barnabas weiterzuspinnen: Er hat ja damals ein Fäßchen Bier nach Rom geschickt, um den Heiligen Vater zu fragen, ob man so etwas in der Fastenzeit zu sich nehmen darf. Die Geschichte will wissen, dass das Bier – nicht unwahrscheinlich damals – beim Transport, mehrere Wochen per Maultier über die Alpen und dann zu Fuß nach Rom – natürlich sauer wurde. Das kennen wir heute im Zeitalter der ununterbrochenen Kühlketten nicht mehr, aber saures Bier muss was greisliges sein. Nicht umsonst werden manche Dinge angeboten „wie sauer Bier“.
Bleibt also die Frage, was Du digital nach Rom schickst für die Genehmigung …
Ich meine übrigens, dass digitales Fasten einfach der Umstieg von Blog auf Twitter ist 🙂
Hier in Fürstenfeldbruck haben die Klosterbrüder den Biber ausgerottet, weil er – nachdem er zum Fisch erklärt wurde – in der Fastenzeit ein leckeres Schmankerl war.
Beim digitalen Fasten erklärt man pharisäerhaft mal eben Audiopodcasts zu langsamen Medien, Blogs zu einer Essaysammlung, Twitter zu einer Art kollektiven Rosenkranzbeten …
Warum fasten, wenn wir es eh noch nie ernst gemeint haben, und warum auch?
Hallo Herr Cole,
eine wirklich ergötzliche Glosse mit kulturgeschichtlichem Hintergrund, aus der man sogar noch das eine oder andere (für mich) Neue erfährt (orthodoxe Fastenbräuche, Kardinal-Speisen).
Werde mich öfter mal hier umsehen.