Vinton Cerf, einer der Erfinder des TCP/IP-Protokolls, spricht gerne von „Netzwerk-Intelligenz“ und meint damit technische Veränderung in Systemlandschaften, die von digitaler Vernetzung ausgelöst werden und zu einer direkten Veränderung im Verhalten ihrer menschlichen Benutzer führen.
Computerexperten sprechen in diesem Zusammenhang gerne von „digital transformation“, also von einer durch digitale Vernetzung induzierten Veränderung von Systemen und IT-Landschaften. Man kann den Begriff aber auch im Sinne Cerfs sehr viel weiter ausdehnen und damit auch Veränderungen im Verhalten von Menschen beschreiben, die mit diesen Systemen arbeiten oder durch sie kommunizieren.
Die digitale Vernetzung wird langfristig zu einer ganz neuen Form von Intelligenz führen, die wir „kommunikative Intelligenz“ nennen, und die wir aus der Beobachtung ableiten, dass der kollektive IQ eines großen Kommunikationsnetzwerks wie zum Beispiel Facebook höher ist als die Summe der Einzel-IQs der Mitglieder. Wahrscheinlich steigt der Gesamt-IQ, ähnlich wie bei dem von John Metcalfe 1993 postulierten „Netzwerk-Effekt“ sogar exponentiell zur Anzahl der Netzwerk-Teilnehmer.
Kommunikative Intelligenz verändert Märkte, schrieben Rick Levine und seine Kollegen Chris Locke, Doc Searls und David Weinberger schon 1999 im Cluetrain Manifest, einer Sammlung von sicher nicht zufällig 95 Thesen über das Verhältnis von Unternehmen und ihren Kunden im Zeitalter des Internets und der „New Economy“, das bis heute so etwas wie ein Kultbuch für Online-Marketeers ist.
Dass Märkte heute auf Gesprächen beruhen, wird deutlich wenn man darüber nachdenkt, wie sich der Kaufvorgang selbst inzwischen verändert hat. Früher war Einkaufen ein mehr oder weniger linearer Prozess: Der Kunde sah eine Anzeige oder einen TV-Spot. Er ging in den Laden, wählte aus und ging zur Kasse, zum berühmten „Point of Sale“. Und auf diesen Punkt und auf den goldenen Augenblick, in dem der Kunde seinen Geldbeutel zückte oder den Kugelschreiber rauszog, um den Kassen- bzw. Kreditkartenbeleg zu unterschreiben, konzentrierten sich alle Bemühungen des Anbieters wie Werbung, PR, Marktforschung oder Kundenbindungs-Programme.
Heute ist Einkaufen ein hochkomplexer und hochintelligenter Kommunikationsprozess, der nicht umsonst als „Customer Journey“ bezeichnet wird: Der Kunde sieht etwas auf YouTube, er fragt seine Freunde auf Facebook was sie davon halten und schließlich surft er auf eines der vielen Empfehlungsportale wie ciao! oder Tripadvisor. Irgendwann kauft er vielleicht etwas, aber das ist nur ein Schritt in der langen Kommunikationskette, denn er fängt ja sofort an, seine Erfahrungen mit dem frischerworbenen Produkt anderen mitzuteilen, die ihrerseits andere einbinden, und so weiter. Social Shopping heißt das heute, und in diesem Prozess ist der Anbieter nur einer von vielen gleichberechtigten Gesprächspartnern – wenn überhaupt!
Und wie geht es nun weiter? Wie werden sich kommunikative Intelligenz und digitale Vernetzung in Zukunft auf Menschen, Gesellschafts- und Businessmodelle auswirken? Hat der Homo sapiens das letzte Wort, oder stehen wir womöglich vor dem nächsten großen Schritt in der Menschheitsgeschichte – diesmal allerdings getrieben durch die Technik, durch unseren Umgang mit noch viel intelligenteren Werkzeugen und Hilfsmitteln als je zuvor? Und wie werden wir erkennen, ob es diese Intelligenzformen tatsächlich gibt?
Vielleicht brauchen wir eine Art „gesellschaftlichen Turing-Test“. Zur Erinnerung: Der britische Informatiker Alan Turing schlug bereits 1950 einen Intelligenztest für Computer vor, also lange bevor es überhaupt so etwas wie echte künstliche Intelligenz gab. Beim so genannten Turing Test führt ein menschlicher Fragesteller über eine Tastatur und einen Bildschirm ohne Sicht- und Hörkontakt mit zwei ihm unbekannten Gesprächspartnern eine Unterhaltung. Der eine Gesprächspartner ist ein Mensch, der andere eine Maschine. Beide versuchen, den Fragesteller davon zu überzeugen, dass sie denkende Menschen sind. Wenn der Fragesteller nach der intensiven Befragung nicht klar sagen kann, welcher von beiden die Maschine ist, hat die Maschine den Turing-Test bestanden, und es wird der Maschine ein dem Menschen ebenbürtiges Denkvermögen zugesprochen.
Es wird in Zukunft darum gehen, die in einer Gesellschaft enthaltene Information kommunikativ überprüfbar und nutzbar zu machen. Ist der Informationsgehalt einer Gesellschaft größer als den der einer anderen, ist die erste besser für die vernetzte Zukunft gerüstet. Aber nur wenn dieser Information eine gewisse „Autonomie“ innewohnt, etwa indem sie in der Cloud gespeichert und jedem Nutzer zugänglich ist, während sie gleichzeitig von jedem anderen Nutzer weiter verarbeitet werden kann, werden wir tatsächlich sagen können: Diese Gesellschaft ist in der Lage mit den neuen Herausforderungen, die durch Digitalisierung und Vernetzung an sie gestellt werden, produktiv und kreativ umzugehen.