Der folgende Artikel über die Digitalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft basiert auf einem Vortrag, den ich auf der Trivadis-Konferenz „Mainhattan 2016“ als Keynote halten durfte.
„Welches Silicon-Valley-Start-Up mit einer guten Idee und jeder Menge Venture-Kapital denkt gerade darüber nach, wie man Ihr Geschäftsmodell ruinieren kann?“
Diese Frage stellt Tobias Kollmann, Inhaber des Lehrstuhls für E-Business und E-Entrepreneurship an der Universität Duisburg-Essen, gerne Unternehmern aus Nordrhein-Westfalen. Und dieser Frage müssen wir alle uns stellen, wollen wir im Zeitalter der Digitalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft, im Zeitalter von Industrie 4.0 und Kunde 2.0, nicht zu den Verlierern, sondern zu den Gewinnern zählen. Dabei drohen nicht diejenigen an uns vorbeizuziehen, die unser Geschäftsmodell besser verstehen, sondern diejenigen, die neue Geschäftsmodelle entwickeln, die unsere alten ersetzen werden.
Warum arbeiten BMW und Mercedes an Carsharing-Projekten? Nicht weil sie fürchten, dass Uber Autos baut. Und auch nicht so sehr, weil sie glauben künftig weniger Autos zu verkaufen. Sondern weil sie fürchten, dass Uber ihnen die Kundenbeziehungen nimmt. Das sind die Wettbewerber im Zeitalter der Digitalisierung: diejenigen, die nicht unsere Dinge besser machen, sondern jene, die neue Dinge tun, die unsere alten Dinge überflüssig machen.
Wie bestimmen der digitale Kunde und die digitale Fabrik und Verwaltung unsere Zukunft? Warum müssen neue digitale Geschäftsprozesse auch zu neuen digitalen Geschäftsmodellen führen? Haben wir in Deutschland in der globalen Digitalisierungswelle überhaupt eine Chance? Wie machen wir aus Daten wertvolle Rohstoffe?
Das Internet der Dinge gibt es nicht
Cyberphysikalische Systeme und die Digitalisierung bestimmen die vierte industrielle Revolution. Dabei geht es nicht nur um das Zusammenwachsen von Fertigungsindustrie und Internet, um die Vernetzung von Maschinen und Produkten, sondern vor allem auch um neue Geschäftsprozesse, um neue Formen der Kommunikation und um neue Mensch-Maschine-Schnittstellen. Denn das „Internet der Dinge“ gibt es nicht. Die Dinge haben kein eigenes Internet. Das Internet gehört immer noch uns. Die Dinge finden nun aber ihren Platz darin.
Zwar erlauben Prescriptive Analytics auch vollautomatisierte und scheinbar entmenschlichte Entscheidungsprozesse. Nach allem was wir wissen werden aber eher maschinengestützte Entscheidungshilfen die absehbare Zukunft bestimmen.
Und auch im Hinblick auf ihre Rationalisierungspotentiale geht es bei der Digitalisierung weniger um die Vernichtung von Arbeitsplätzen, als um neue Produkte, nochmals kleinere Losgrößen und schnellere Anpassungen der Produktion an Marktveränderungen.
Digitalisierung muss nicht zu mehr Arbeitslosigkeit führen
Die heute viel diskutierten Rationalisierungseffekte der Digitalisierung sind stark branchenabhängig. Branchenübergreifend gleichen sich die Auswirkungen der Digitalisierung auf die Anzahl der Arbeitskräfte offenbar weitgehend aus. Folgt man der Selbsteinschätzung deutscher Arbeitgeber, so werden vor allen Dingen in der Finanzwirtschaft Arbeitsplätze abgebaut. In der Industrie erwarten die Arbeitgeber, dass sich die Schaffung und die Vernichtung von Arbeitsplätzen weitgehend ausgleichen werden. Im Dienstleistungsmarkt könnte die Zahl der Arbeitsplätze durch die Digitalisierung sogar eher zunehmen.
Die Geschwindigkeit, mit der sich die Digitalisierung in den Branchen durchsetzt, scheint abhängig zu sein von den Intentionen der Branchen-Entscheider. Folgt man einer Umfrage der IHK vom Sommer 2016, so sind diejenigen Branchen führend, bei der durch die Digitalisierung heute unmittelbar Gewinne gesteigert und Kosten minimiert werden können. Da wo es um komplexe Reorganisationsprozesse, um neu gemodelte Geschäftsprozesse geht, da braucht die Digitalisierung länger:
Andere Studien scheinen diesen Trend zu bestätigen:
Zwischenruf: Open Innovation ist die Digitalisierung des Lions Clubs.
Gleichwohl sollten wir die Auswirkungen der Digitalisierung auf den Dienstleistungssektor nicht unterschätzen. Insbesondere Berater werden sich wappnen müssen. Die Vergesellschaftung des Expertenwissens schreitet voran. Mehr und mehr ehemals „geschütztes“ Experten-Know-How wird zum kostenlosen Content. Klassische Match-Making-Communities brechen weg. Vertriebserfolge hängen nicht mehr vom Handicap auf dem Golfplatz ab und die Abendessen bei den Rotariern werden zunehmend von Online-Communities abgelöst. Open Innovation ist die Digitalisierung des Lions Clubs.
Der digitale Kunde ist der nackte König
Der digitale Kunde ist mehr denn je ein absolutistischer König:
- Er kann aus einer wachsenden Produktvielfalt wählen
- Die Zustellung erfolgt schneller denn je
- Seine Verhandlungsmacht steigt durch die wachsende Transparenz der Preise
- Seine Verhandlungsmacht steigt auf Grund der enger werdenden Consumer Collaboration
Andererseits steht dieser König zunehmend ohne Kleider da. Er ist ein nackter König, der Produkte gegen Daten tauscht und der die Big-Data-Töpfe der CRM-Systeme mit seiner DNA befüllt.
Wer den Kunden hat, der macht das Geschäft
Die Grundregeln von Industrie und Handeln ändern sich. Zunehmend werden Werte nicht mehr in einzelnen Unternehmen geschaffen, sondern zwischen Unternehmen. Die Zirkulationssphäre nimmt der Produktion das Zepter der Weltherrschaft aus der Hand. Man erkennt dies am Siegeszug des Crowdsourcing, der der wachsenden Relevanz des Empfehlungsmarketings, an der Öffentlichkeit ehemaliger Firmengeheimnisse im Content- und Social-Media-Marketing. Zunehmend gilt: „Nicht der, der sein Wissen schützt gewinnt, sondern der, der es teilt.“
Vor allem aber gilt: „Die Kundenbeziehung bestimmt den Wert stärker als das Produkt.“ Man stelle sich folgendes Szenario vor:
Ein Immobilienmakler stellt fest, dass er seinen mobilen Kunden der us-amerikanischen Mittelschicht durchschnittlich alle 10 bis 15 Jahre ein Haus verkaufen kann. Sein Kunde, ein moderner Business-Beduine, zieht seinen Aufträgen und Arbeitgebern hinterher: mal von der Ost- an die Westküste, dann wieder zurück. Der Makler sucht also ein Kundenbindungssystem für einen 15jährigen Produktlebenszyklus. Und er findet die Lösung: Der erste, den sein Kunde an einem neuen Wohnort kennt, ist der Makler. Also bitet der Makler alle wichtigen lokalen digitalen Services an: ein gebrandetes Portal mit den Hinweisen auf die Schulen, Behörden, Ärzte und anderen Dienstleister vor Ort. Schon bald merkt der Makler, dass diese lokalen Anbieter von seinem Portal abhängig sind: sie schalten Anzeigen, da sie an seinen Kunden etwas verkaufen wollen. Der Makler verdient bald über sein Portal mehr Geld, als über seine Immobilienmakelei. Er vermarktet seinen Kundenkontakt. Wer den Kunden hat, der macht das Geschäft. Ähnliche Prozesse erleben wir heute immer öfter in Cop-Marketing-Systemen und auf gemeinsamen Handelsplattformen.
Kreative Unternehmer müssen sich Gedanken machen, was von ihrem Kundenwissen heute für wen von Interesse ist. Für einen Logistiker geht es künftig weniger um den Einsatz von Drohnen, als darum sein Wissen über den Kunden zu vermarkten: niemand weiß besser als er, an welchen Tagen und zu welchen Uhrzeiten ein Kunde zuhause ist. Dieses Wissen ist für viele Unternehmen sehr viel wert.
Manche Unternehmer benötigen keinen IT-Berater, sondern einen Psychiater
Laut einer Studie des Branchenverbands Bitkom sehen sich Ende 2016 7 Prozent der deutschen Unternehmer als Digitalisierungsverlierer. Sie geben an „Wir haben den Anschluss verpasst“ und sie geben sich schon heute mehr oder weniger auf. 59% sehen sich als Nachzügler bei der Digitalisierung. Sie schreien um Hilfe. Nur 43 % verfügen über eine zentrale unternehmensweite Digitalisierungsstrategie – und dabei ist noch nichts zur Professionalität dieser Strategie gesagt.
Erinnern wir uns an die Ungleichzeitigkeit der Digitalisierung in den Branchen und an den offenbaren Zusammenhang von Digitalisierungstempo und Rationalisierungspotentialen: der Bitkom hat deutsche Unternehmer auch danach befragt, welche unternehmerische Ziele sie in den kommenden 12 Monaten mit welcher Priorität verfolgen:
Wer das Tempo der Digitalisierung beschleunigen will, muss mental bei der Entscheidern ansetzen: Gefordert ist ein starker Wille zur Veränderung, die Kreativität an Veränderungen sich nicht bloß anzupassen, sondern Veränderungen aktiv voranzutreiben. Gefordert ist ein großes „Wir schaffen das – weil wir gut, kreativ und originell sind“.
Und nur um klarzustellen, dass es hier nicht um das beliebte Unternehmer-Bashing geht: Eine Bundesarbeitsministerin, die sich öffentlich Gedanken darüber macht, ob der Stuhl im digitalen Office der Zukunft – also im Starbucks – der Arbeitsplatzrichtlinie DIN EN 1335-1 entspricht ist kein Vorbild für digitale Unternehmer. Nicht wirklich.
Deshalb möchte ich enden mit einem Zitat meines Freundes Tim Cole aus seinem aktuellen Buch „Digital Transformation„:
„In den nächsten fünf bis zehn Jahren wird sich entscheiden, wer zu den Gewinnern und wer zu den Verlierern dieser digitalen Transformation gehören wird. Unternehmen müssen sich neu erfinden, liebgewordene Gewohnheiten und Denkweisen aufgeben und sich dem Druck des Neuen anpassen. Jedes Unternehmen muss sein Geschäftsmodell auf den Prüfstand stellen, seine Art, mit Kunden zu kommunizieren, sein Marktverständnis und seine Arbeitsabläufe. Das betrifft alle Bereiche des Unternehmens, vom Vertrieb bis zum Einkauf, vom Marketing bis zu Logistik, von der Fertigung bis zum Personalwesen.“