Der „funktionale Analphabetismus“ ist eine Volksseuche, die gerade in Deutschland und Österreich besonders weit verbreitet ist. Die aktuelle PISA-Studie hat ergeben, dass jeder Sechste hierzulande beim Lesen auf dem Niveau eines Zehnjährigen verharrt. Und schuld daran ist wer? Die Schulen? Die Politik? Nein: Es ist die katholische Kirche!
In einem Interview unseres lokalen Käsblättchens, den „Salzburger Nachrichten“, kommt heute der Göttinger Bildungswissenschaftler Prof. Stefan Hopmann zu Wort, der im Interview zwar richtig erkennt, dass unser Schulsystem noch aus dem Feudalismus stammen, also im Grund ein „Staatsschulwesen“ ist, das von oben zentralistisch dirigiert wird, was de facto dazu führt, dass „die Stammtische den Daumen auf den Schulen haben“. Dagegen könnte man ja etwas tun, beispielsweise den Schulen mehr Autonomie und finanzielle Unterstützung geben, was ihnen erlauben würde, sich viel mehr auf einzelne Schüler einzustellen und deren individuelles Lerntempo mitzugehen.
Es sei aber schon auffällig, so der gute Professor, das gerade Länder mit starkem protestantischen Hintergrund wie Finnland (Platz 2), Holland (Platz 4) oder Schweden (Platz 5) in Sachen Lesekultur längst die größtenteils katholisch geprägten Länder Österreich (Platz 10) und Deutschland (Platz 12) abgehängt haben, von den Papismus-Hochburgen Italien und Spanien mal ganz angesehen, die in der Studie die beiden Schlusslichter bilden.
Eine verlockende Schlußfolgerung, finden Sie nicht? Die katholischen Dumpfbacken, die zeitlebens gelernt haben, dem einschläfernden Singsang des Pfaffen über sich ergehen zu lassen, der sozusagen die Schleuse bildete zwischen Gott und Mensch und dessen durch die Kirchengewölbe hallenden Bibelsprüche ins eine Ohr rein und durchs andere wieder raus geflogen sind. Ihm gegenüber der evangelische Arbeitsethiker, der sich mühsam Buchstabe für Buchstabe durchs Buch der Bücher quält, getreu dem Motto Luthers, der ihm auftrug, die „schöne Wahrheit des Evangeliums“ bitteschön selbst zu lesen.
Da Lesefähigkeit allgemein mit Aufklärung und Selbstbestimmung in Verbindung gebracht, ja geradezu als Ausweis des Erreichens einer gewissen Intelligenzstufe gesehen wird, könnte man also verknappend sagen: PISA unterscheidet zwischen dummen Katholiken und klugen Protestanten. Wogegen sicher die PISA-Macher selbst am lautesten protestieren werden. Man müsste vielleicht ihren konfessionellen Sozialisierungshintergrund durchleuchten.
Und es sind ohnehin Zweifel angebracht an der Theorie, dass Luthers aggressive Kampagne zur Ausbreitung der Lesefähigkeit wirklich als Teil einer sozioökonomischen Befreiungstheologie zu verstehen ist, nach dem Motto: Lerne lesen, dann kannst du deine Ketten ablegen. Wie Holger Flachmann in seiner historischen Studie zur Bedeutung des Buches im Handeln und Denken des Reformators (Martin Luther und das Buch“, Mohr Siebeck, 1996) feststellte, befürwortete Luther die allgemeine Lesefähigkeit nicht etwa mit dem Ziel einer höheren Bildung für breite Bevölkerungsschichten. Dazu hätten sie ja dem damalígen Verständnis nach nämlich direkt auf die griechischen und hebräischen Quelltexte zurückgreifen müssen, was aber Luther als pure Anmaßung abtat. Das Fußvolk solle sich bei der Lektüre gefälligst auf deutsche Líteratur beschränken: „Deudsche bucher sind furnehmlich dem gemeinen man gemacht“. Man könnte das auch als „Lesefähigkeit lite“ beschreiben.
Wenn Lesen aber frei macht, wie viele meinen, dann sind in Deutschland und Österreich weite Teile der Bevölkerung mediale Sklaven – was durchaus im Sinne der Machthaber wäre, denn wer seine Lebensumstände mangels entsprechender Begrifflichkeit nicht kritisch begreifen kann, der lässt sich leichter fernlenken.
Neben dem Interview mit Prof. Hopmann lassen die „SN“ übrigens den Schauspieler und Sänger Alfons Haider zu Wort kommen, den sie ihren Lesern als „bekennenden Computerverweigerer“ vorstellen. Facebook und Twitter seien für ihn tabu, behauptet er. So ganz aber wohl doch nicht, denn immerhin gibt es eine offizielle Facebookseite von ihm, auf dem er uns in James-Bond-Manier mit zusammengekniffenen Augen und mit einer Knarre in der Hand entgegenstarrt. Die sei von seiner Agentur gemacht, behauptet er, aber besonders fleißig sind die auch nicht: Der letzte Eintrag stammt aus dem März 2012 („Wünsche allen ein gelungenes Osterfest, die faulen Eier könnt ihr liegen lassen.“).
Haider gehört zu jenen knapp 10 Prozent der Menschen im deutschsprachigen Raum, die laut PIAAC-Studie („Programme for the International Assessment of Adult Competencies“) zugeben, noch nie einen Computer benutzt zu haben. Weitere 1,8 Prozent konnten übrigens nicht an der Studie teilnehmen, weil sie dafür keine ausreichenden Sprach- und Lesefähigkeiten besaßen.
Ich finde diese Zahl viel besorgniserregender als die PISA-Ergebnisse. Und man kann hier nicht der katholischen Kirche die Schuld in die Schuhe schieben, so gerne man es auch täte. Vielmehr scheint sich auch bei uns eine Kultur der Verblödung auszubreiten, wie man sie bislang nur aus Amerika kennt, wo so mancher Republikaner geradezu stolz darauf ist, ein „No Nothing“ zu sein, der Wissenschaft als Teufelswerk ablehnt, die Erderwärmung für einen liberalen Komplott hält und Obama für einen Vaterlandsverräter, der den Sozialismus durch die Hintertür der allgemeinen Krankenversicherung einführen wird. Ich bin so frei, dumm zu sein: Auf dieses Motto lässt sich das eindampfen, was gerade drüben über die Bühne geht. Und ich dachte, wir wären in Europa weiter.
Was Luther dazu wohl gesagt hätte?
Lieber Tim,
was ein Frage…
Als ehemaliger Augustiner hätte Martin Luther vermutlich den Kernsatz aus der augustinischen Bekehrungslegende zitiert: Tolle, lege!
Was, wir wir theologisch gebildeten Altsprachler alle wissen, nichts anderes bedeutet als: Nimm (und) lies.
Tatsächlich aber ist diese Überlegung nicht falsch. Denn während das Protestantentum Zeit seiner Existenz sich der deutschen bzw. der jew. Landessprache bedient hat und Bibeln wie auch Katechismen, Breviere und allerlei anderes frommes Schriftwerk in selbiger verfasst war, tat sich die katholische Kirche ja immens schwer, auf das Kirchenlatein zu verzichten… womit der Bildungsvorsprung (und damit die Macht) der Kleriker gewahrt und das Lesen breiter Bevölkerungskreise nicht gerade gefördert wurde.