Da muss einer so alt werden, um schreiben zu lernen wie der junge Böll. Erst wollte ich es ja nicht lesen. Es muss ja nun wirklich nicht sein, dass ein Kommissar nach dem anderen uns seine Lebenserinnerungen verkauft. Die „Raumpatrouille“ von Mathias Brandt habe ich mit großem Vergnügen gelesen. Schon wegen des Titels. Schließlich war und bin ich großer Fan des schnellen Raumkreuzers. Mathias Brandt ist ziemlich genau mein Jahrgang, seine Kindheitserinnerungen sind meine und außerdem ist er „der Sohn.“ Dabei fällt mir auf, dass ich das Buch hier noch gar nicht besprochen habe.
Nun kommt also auch noch „der Einarmige“ mit seinen Erinnerungen daher. Fehlt nur noch Borowksi mit der schönen Stimme. Er wird seine Kindheitstraumata wohl gleich als Hörbuch einsprechen. Alles andere wäre Verschwendung. Ich höre keine Hörbücher. Der Kelch geht an mir vorüber.
Ich hatte eine recht vielversprechende Besprechung der Erstlings von Edgar Selge in der Süddeutschen Zeitung gelesen. Also hat mich „Hast du uns endlich gefunden“ gefunden. Und nun lag es da und wurde das erste Buch des neuen Jahres 2022. Und es wurde eine Überraschung.
Denn während Mathias Brandt ein nettes Buch gelungen ist, hat Selge ein großartiges Werk abgeliefert. Der Mann kann wirklich schreiben. Würde man ihm den richtigen Stoff geben, er würde wohl auch einen richtigen Roman zuwege bringen.
Edgar Selge zeichnet ein düsteres Bild einer Kindheit im Adenauerdeutschland
„Hast du uns endlich gefunden“ ist eine Autobiographie. Aber wenn man sich erstmal durch die ersten zwanzig oder dreißig Seiten gequält hat, in denen einen das Gefühlt überkommt, der Autor versucht sich mit einer alten Schreibmaschine anzufreunden, taucht man in eine Geschichte ein, der man nicht mehr entrinnen kann. Selge fesselt mit einer atmosphärisch dichten, akribisch genauen und dabei niemals langweiligen Schilderung einer Kindheit in den späten fünfziger und frühen sechziger Jahren Westdeutschlands. Das Land ist noch immer Nachkriegsland, gezeichnet nicht weniger von Hitler, als von Adenauer, ein autoritäres Düsterland, in dem das große (Ver-)Schweigen herrscht.
Selge erzählt von seinem autoritärem Vater, Gefängnisdirektor und Musiker, autoritärer Brüllwürfel und Zuchtmeister und sensibler Schumann-Interpret. Ein guter Deutscher. Er stand vor 1945 nicht auf der Seite der Opfer. Danach auch nicht. Wenn ich schreibe, dass man der Erzählung von Edgar Selge nicht entrinnen kann, dann liegt das wohl daran, dass auch der heranwachsende Edgar seiner Geschichte nicht entrinnen kann. Täter-Kinder sind Opfer, die zu Tätern werden. Sie bleiben stets Gefangene ihrer Träume und Phobien. Selten hat jemand so schonungslos über seine Traumbilder berichtet wie Edgar Selge. Es gehört eine große innere Reife dazu, soviel Verletzung zu offenbaren. Und er tut dies in schlichten ergreifenden Bildern, ungekünstelt, beinahe in der Sprache des Kindes, das zu sein er vorgibt.
„Hast du uns endlich gefunden“ ist mehr als nur eine Autobiografie, es ein Stillleben vom Brot der frühen Jahre
Selge ist ein großartiger Erzähler, der zwischen den Zeitebenen hin und her springt, der in Erinnerungssequenzen Kindheitserinnerungen und Kindheitserleben vermengt ohne dabei die Identität des mal 12-, mal 60jährigen Edgards aufzugeben. Dass er ein wunderbarer Schauspieler ist, war mir immer klar, dass er ein noch viel großartigerer Schriftsteller sein kann, hat er mit diesem Buch bewiesen. Dass einer so alt werden muss, um wie der junge Böll zu schreiben, ist bemerkenswert.
…und damit auf der Vormerkliste, denn wenn uns beiden „Raumpatrouille“ so gut gefallen hat und Du dieses Buch empfiehlst, bin ich dabei.
Danke
Selges Buch hat mich aus zwei Gründen gefesselt:
(1) Er beschreibt präzise und ungewöhnlich offen ein Milieu, das mir (Jg. 1939) aus meiner eigenen Jugendzeit nur zu vertraut ist: Das nationalsozialistische Gedankengut mit all seinen Implikationen war in den 50er und 60er Jahren noch keineswegs aus den Köpfen der Elterngeneration, soweit sie den Krieg überlebt hatte — auch bei denjenigen, die keine dezidierten Nazis waren. Bürgerliche Kultur-Beflissenheit, aber Ablehnung der Moderne als ‚entartet‘; Familienstrukturen mit autoritären Vätern und untergeordneten Frauen; verklemmte Sexualität usw. Und er beschreibt nicht die großstädtischen Sozialmilieus, die sonst überall im Vordergrund der historischen Betrachtung stehen, sondern die ostwestfälische Kleinstadt Herford, die vielleicht charakteristischer für die frühe Bundesrepublik ist als die Szene in Hamburg, Frankfurt, Köln oder Westberlin.
(2) Ich bin wie Selge in eben diesem Herford aufgewachsen. Mein Schulweg führte rund 10 Jahre an der von Selge so anschaulich beschriebenen Mauer des Jugendgefängnisses und dem Haus der Selges vorbei. Oft mit leichtem Schauder darüber, wie es wohl den Jungen hinter der Mauer gehen würde und welche Untaten sie dahin gebracht hätten. 10 Jahre von 1950 bis 1960, in denen ich allerdings das mathematisch-naturwissenschaftliche Gymnasium besuchte, während Edgar von seinen Eltern ab 1958 auf das altsprachlich-humanistische Friedrichs-Gymnasium geschickt wurde. — Im übrigen: Erst in Selges Zeit wurde allmählich die Koedukation in den Gymnasien eingeführt. Mädchen gingen bis dahin auf das ‚Oberlyzeum für Frauenbildung‘, spöttisch „Pudding-Gymnasium“ genannt. Wenn Selge von einer Mitschülerin schreibt, die vor ihm gesessen habe, dann muss es sich um eine der wenigen mutigen jungen Frauen gehandelt haben, die sich unter eine Meute von mehreren hundert männlichen Schülern gewagt hatten — auch das ein Charakteristikum für diese Zeit.