Laut der Ärztezeitung leiden überraschend viele Menschen bei uns an einer rätselhaften Krankheit: Prosopagnosie. Nachdem Agnosis ein Nichterkennen und Prosopon das Gesicht ist, muß man nicht Medizin studieren, um zu erraten, um was es hier geht. Es gibt Menschen, die schaffen es nicht, ein Gesicht zu erkennen. Das heißt, sie wissen sehr wohl, daß es sich um ein Gesicht handelt – nur nicht, wem es gehört.
Ein bisschen prosopagnostisch sind wir wohl alle. Wer wenig Asiaten kennt, für den sehen „die“ doch alle gleich aus. Und von chinesischen Freunden weiß ich zuverlässig, daß es ihnen mit uns Langnasen nicht anders ergangen ist, zumindest, bis sie nach Europa gezogen sind.
Aber auch europäische Gesichter sind nicht immer deutlich einem Namen zuordenbar. Passiert mir ständig. Kennen Sie das? Man sieht jemanden, weiß genau, den kenne ich!, und man kommt einfach nicht drauf, wer das ist und woher man ihn kennt. Das ist kein spezielles Phänomen der Moderne. Schon die alten Römer kannten das. Wer es sich leisten konnte, hielt sich einen speziellen Sklaven, der bei der Promenade in den antiken mondänen Seebädern wie Baiae, Herculaneum, Pompeji, in Cumae oder auf Capri immer hinter seinem Herrn zu gehen hatte, um ihm die Namen aller ins Ohr zu flüstern, die entgegenkamen.
Wer sich den Sklaven nicht leisten kann, der braucht ein Buch, in dem er bei Bedarf nachschlagen kann. Ein Buch mit Gesichtern. Ein Facebook, sozusagen. Die Firma Facebook ist allerdings berühmt für ihr Fingerspitzengefühl im Umgang mit den Daten seiner Nutzer. Oder im Umgang mit den Daten von Leuten, die jemanden kennen, der einen Facebook-Account hat. Und da Datensensibilität ein Merkmal der digitalen Bohème geworden ist, bekommt Facebook regelmäßig Prügel. Und regelmäßig zu Recht. Aber regelmäßig heißt nicht immer. Seit neuestem kann Facebook nämlich Gesichter erkennen, ist sozusagen von seiner Prosopagnosie geheilt.
Noch vor kurzem mußte man beim Hochladen eines Bildes zu allen abgebildeten Personen den Namen manuell erfassen, wenn man wollte, daß diese Personen mit den Bildern verknüpft werden. Das nennt man „taggen“. Die aktuelle Neuerung auf Facebook funktioniert so: Wann immer ein neues Bild bei Facebook eingestellt wird, überprüft Facebook, ob Gesichter darauf vorkommen. Ist dies der Fall, so versucht Facebook, diese Gesicher bei den „getaggten“ Personen mit Facebook-Account zu finden. Sind diese Personen nun mit dem Nutzer „befreundet“, präziser gesagt, in Facebook verknüpft, werden ihre Namen zum Tagging vorgeschlagen. Sonst nicht, übrigens. Dennoch:
Hah! Datenschutz! Kollektive Erregung!! Aber wo genau findet der Datenschutzverstoß statt? Den Datenschutz verletzt, wenn überhaupt, derjenige, der Bilder von Leuten hochlädt, deren Erlaubnis er dafür gar nicht hat. §22 KunstUrhG. Und der dann die Namen seiner „Freunde“ vielleicht gegen deren Willen mit den Bildern verknüpft – „Willi Hasenclever, voll besoffen und halbnackt“. Bezaubernd – solche Freunde wünscht man sich. Dagegen kann man sich aber ganz einfach wehren: Solche Freunde hat man sich ja ausgesucht (bzw. bestätigt). Löscht man die Verknüpfung, hat sich die Taggerei gleich erledigt.
Ich finde die ganze Sache hochspannend. Leute zu erkennen, von denen man nur ein Photo hat – bis vor kurzem hätte ich das für völlig unglaubwürdige Science Fiction gehalten. Daß in London angeblich Terroristen auf Videoaufnahmen automatisch erkannt würden, war für mich reine Propaganda. Wenn das dann irgendwann zuverlässig funktioniert, wünsche ich mir das als App für mein iPhone, das mir dann zuflüstern kann, wem ich da grad gegenüberstehe. Das wäre mal wirklich praktisch.