Frank Schirrmacher ist tot. Und glaubt man den unzähligen bemühten Nachrufen, dann ist ein Gigant von uns gegangen, ein „herausragender Publizist“ (Gauck), ein „publizistisches Universalgenie“ (SPIEGEL Chefredakteur Büchner), gar „ein Freund“ (Sigmar Gabriel). Ja ja – über frisch Verstorbene sagt man nur Gutes. Am ehesten gefällt mir da noch der Nachruf Frank-Walter Steinmeiers: „Frank Schirrmacher war gesellschaftlicher Vordenker und intellektueller Grenzgänger zugleich. Er hat in seiner Zeitung und im deutschen Feuilleton wichtige gesellschaftspolitische Debatten angestoßen. Wie nur wenige hat er engagiert für seine Überzeugungen gestritten und dabei die Gabe gehabt, zutiefst politisch zu denken und zuzuspitzen, ohne zu verletzen.“
Eins ist klar: an die Maxime, nach der man über frisch Verstorbene nur Gutes zu sagen habe, hätte einer sich gewiss nicht gehalten: Frank Schirrmacher.
Er war fürwahr ein „intellektueller Grenzgänger“. Er hat in „Payback“ viel Dummes über das Internet geschrieben, ebenso im „Methusalemkomplot“ über das Mehrgenerationenhaus Deutschland. Seine Auseinandersetzung mit dem Netz hat uns bei Czyslansky heftig beschäftigt. Wir haben dazu sogar im Dezember 2009 eine öffentliche Diskussionsrunde in München veranstaltet. Es war mein Freund Tim Cole, der im November 2009 den großen Fehdehandschuh in den intellektuellen Ring warf.
Sein Artikel „Warum Frank Schirrmacher nicht mehr mitkommt“ hat den Kontrahenten so genervt, dass Tim seitdem den Anwalt der F.A.Z. zu seinem Bekanntenkreis zählen darf. Frank Schirrmacher war verletzlicher, als viele meinten. Und das adelt ihn – auch für mich: denn wer Empfindsamkeit sich nicht bewahrt, der ist den Streit nicht wert.
Schirrmacher war aber auch diskursfreudig. Mich hat er später eingeladen, meine Position zur „Internetgesellschaft“ in seiner F.A.Z. vorzustellen. Dabei bewegten sich Tim und ich in der Auseinandersetzung mit Schirrmacher fast wie zwei olympiaverdächtig perfekte Synchronschwimmer.
Wir haben Frank Schirrmacher immer als Kulturpessimisten alter Frankfurter Schule interpretiert, „der die Dialektik der Aufklärung Adornos und Horkheimers nach mehr als sechzig Jahren in alter Pracht wiederauferstehen [ließ], ergänzt um allerhand schön formulierte krude populistische Mystik„. So schrieb ich an dieser Stelle am 16. Dezember 2009 und so meine ich heute nicht anders. Wenn er den Computer für die Krise des Buches – nicht des Buchhandels – haftbar machte, so schloss er sich den Maschinenstürmern an. Wenn der den Computer als Auslöser der Bankenkrise sah, entließ er die wahren Schuldigen aus der Haftung. Er ging den Mythen des Computerzeitalters auf den Leim, wenn er die alte hübsche falsche Mär von Powerpoint als Verursacher des Raumschiffs Columbia hervorzauberte.
Weil er stets nur an der Oberfläche der Probleme kratzte, wurde Schirrmacher zum dunklen Mystiker des Internet. „Unter Hinweis auf das bunte Bauklötzchen-Design des Suchmaschinen-Giganten [Google] wird sogleich die geheime Kraft aus dem Kinderzimmer aufgebauscht – das richtige Bedrohungsszenario für alternde Männer in den Wechseljahren, denen die Harley zur Sublimierung ihrer Verlustängste verwehrt bleibt.“ Ich könnte das heute nicht wohlfeiler formulieren.
Ganz am Schluss seines Payback-Buches vermerkte Schirrmacher, dass es darum gehe, „in Zeiten der Suchmaschine den Wert der richtigen Frage zu erkennen“. Wie wahr. So erwies sich jüngst ausgerechnet mein Freund Tim Cole als Schirrmachers Erfüllungsgehilfe: denn er hat im Traumduett mit Ossi Urchs – dem Urchsgestein des Internet (Sorry, aber wie lange habe ich geharrt, dieses billige Wortspiel halbwegs passend irgendwo unterzubringen) – in dem lesenspflichtigen Buch „Digitale Aufklärung“ zwar auch keine Antworten auf die großen Fragen gegeben, aber äußerst präzise die richtigen Fragen gestellt.
Was bleibt von Frank Schirrmacher? Wenig richtige Antworten, zumeist falsche Fragen, aber viele Anstöße relevanter Diskussionen. Er war ein großer Themensetzer, ein intellektueller Grenzgänger fürwahr. Als solcher wird er mir fehlen. Vor allem aber fehlt er uns allen als Zeitungsmacher. Er hat begriffen, dass nur jene Journalisten und Publizisten künftig eine Chance haben werden, denen es gelingt sich zur Marke zu machen. Und „der Schirrmacher“ war eine Marke. Und es stimmt: er war einer der größten Publizisten unserer Tage. Einer der größten Denker war er nicht.
Da wo Frank Schirrmacher jetzt ist, ist nichts, nicht einmal ein Internet. Das ist tröstlich.
Schön geschrieben und wohl wahr gesagt; von vielen, von denen man jetzt so liest, hätte man gerne früher eine Haltung für oder gegen Schirrmachers Thesen gelesen. Und im Übrigen glaube ich nicht, dass Schirrmachers Erfolg als streitbarer Publizist darin liegt, dass er sich bewusst zur Marke gemacht hat. Vielmehr hat er gezeigt, was Constantin Seibt immer fordert, nämlich, dass Journalisten wieder lernen müssen, nicht beliebig zu sein. Sie sollten gegenüber Themen Haltungen einnehmen, die auch aus ihnen selbst heraus kommen und damit Leser überzeugen oder zum Diskurs bringen (http://youtu.be/2qBk3px56mE?t=15m20s). Das hat Schirrmacher, mit Hilfe der FAZ, zur Marke gemacht – ob er wollte oder nicht.
Schirrmacher war keine Marke, sondern ein Gemischtwarenladen. Er hat einfach zu viele Themen zu besetzen versucht, und zwar immer mit der gleichen einerseits zwar fiesen, andererseits aber äußerst professionellen Masche: Wende dich an Menschen, die desorientiert sind und das Gefühl haben, dass es ihnen schlechter geht wie früher, und sage ihnen, wer schuld daran ist. Er hat also ziemlich flache Feindbilder und Vorurteile bedient, aber so haben gute Propagandamacher und Boulevardjournalisten schon immer gearbeitet.
Ich muss ihm aber, und das ist jetzt keine rührselige Verbeugung vor einem zu früh Verstorbenen, Abbitte leisten. Ich habe ihn einmal mit Goebbels verglichen, der ebenfalls ein meisterlicher Propagandamacher war, vielleicht der beste überhaupt, aber das war nicht fair. Schirrmacher hat sich zwar aus der gleichen Werkzeugkiste bedient, aber er hat nicht den entscheidenden letzten Schritt getan, nämlich uns zu sagen, wie die Endlösung aussieht. Er hat das leider zu Lebzeiten nicht verstanden und mir zu Unrecht unterstellt, ich würde ihn in die Nähe des Antisemitismus rücken (ich habe keine Ahnung, ob er Pro- oder Antisemit war, und es wäre mir in diesem Zusammenhang auch egal gewesen).
Außerdem hat er nach dem reichlich unreflektierten Buch „Payback“ noch sein einziges lesenswertes und ernstzunehmendes Buch hinterhergeschickt, nämlich „Ego“, in dem er die fatale Überhöhung des Egoismus in Wirtschaft und Gesellschaft geißelte und damit eine Überfällige Diskussion zum Gleichgewicht zwischen Egoismus und Altruismus sowie eine Auseinandersetzung mit dem neuen Gierkapitalismus forderte.
Ich bin Frank Schirrmacher in den letzten Jahren aus dem Weg gegangen, obwohl es mehrmals Einladungen an uns beide gab, uns auf der Bühne oder vor der Kamera miteinander zu streiten. Dazu habe ich ihm die Sache mit der Pressekammer des Hamburger Landgerichts zu übel genommen.
Schade, dass ich keine Gelegenheit mehr bekommen werde, mit ihm über die Themen von „Ego“ zu reden. Das hätte ich sehr gerne getan – auch ohne Kamera.
Lieber Tim: ein kluger Nach-Nachruf. Nur in Bezug auf die „Marke“ bin ich anderer Meinung. Eine Marke definiert sich ja nicht über eine thematische Zugespitztheit, sondern über ein identitätsstiftendes Grundmuster. Und sein Grundmuster hast du ja eben trefflich beschrieben: populistische Anwaltschaftlichkeit. Übrigens war Schirrmacher allerdings ein überzeugter Anti-Antisemit: er hat sich massiv in die Walser-Bubis-Debatte eingemischt – zu Gunsten von Bubis und später heftig mit Grass angelegt und diesem Anti-Semitismus vorgeworfen – zu Unrecht wie ich meine. Aber Schirrmacher scheute keine Konflikte im Kampf gegen Antisemitismus. Das wäre ihm, gäbe es eine Distanz zur Lebensbilanzierung, durchaus noch positiv anzurechnen.
Lieber Markus: kein Widerspruch; nicht von mir.
„Frank Schirrmacher immer als Kulturpessimisten alter Frankfurter Schule“ – Nun ja, aber nicht die Horkheimers und Marcuses? Andere sagen ihm nach, er sei Republikaner gewesen – dabei sympathisierte er, wenn überhaupt, mit der Piratenpartei. Aber sein Methusalem-Komplott, das hat er ernst und sich zu Herzen genommen. Und daraus seine ganz eigenen Konsequenzen gezogen!