Frau, Leben, Freiheit - Zur Lage im Iran
Seit meiner Reise mit dem Zug durch den Iran vor nun schon sechs Jahren verbindet mich mit dem Iran eine besondere Beziehung. Ich habe damals so wunderbare Menschen in diesem Land kennengelernt und mich zur Vorbereitung auf diese heikle Fahrt durch eine schon damals unmenschliche Diktatur so intensiv mit der Geschichte und Kultur Persiens beschäftigt, dass mir das Schicksal der Region und seiner Menschen wirklich am Herzen liegt.
Und so bin ich auch vor Jahren schon auf den Berliner Verein für Nothilfe e.V. gestoßen, der sich um die Freilassung politischer Gefangener im Iran kümmert. Die jüngsten Nachrichten aus dem Iran geben Anlass einmal wieder auf die aktuellen Zustände im Iran hinzuweisen, auf die Nöte der Menschen vor Ort und sich Gedanken über mögliche politische Entwicklungen zu machen.
Es geht nicht um den Hijab
Die aktuellen Proteste im Iran drehen sich schon lange nicht mehr nur um die Forderung nach einer Abschaffung des Hijab, der Verpflichtung für die Frauen in der Öffentlickeit ein Kopftuch zu tragen. Die Proteste gehen viel weiter und ich möchte behaupten, dass das Kopftuch vielleicht ein Symbol des aktuellen Widerstands war, aber niemals in seinem Zenrum stand. Der Schlachtruf „Frau, Leben, Freiheit“ deutet es an: es handelt sich um eine antirepressive und antiklerikale umfassende Revolution, die von sehr unterschiedlichen Teilen der Gesellschaft getragen wird.
Was die heutige Widerstandsbewegung für das iranische Regime so gefährlich macht ist eben ihre breite gesellschaftliche Verankerung. Das unterscheidet sie von der „Grünen Bewegung“ des Jahres 2009. Damals gingen Angehörige der gebildeten und reichen Mittelschicht auf die Straße. Es waren die wohlbehüteten Kinder aus den nördlichen Vororten Teherans die gegen die Bevormundung durch die Mullahs protestierten. Drei Millionen, so schätzt man, gingen damals auf die Straße, weil sie wissen wollten „Wo ist meine Stimme?“ Es ging gegen Wahlbetruf, und für demokratische Grundrechte und eine gewisse Freizügigkeit. Die soziale Unterschichte stand weitgehend hinter dem ultrakonservativen Regierungschef Mahmoud Ahmadinedschad, der versprochen hatte, sich um sozialen Ausgleich zu bemühen. Tatsächlich hat er in den ersten Jahren auch zahlreiche soziale Reformen unter dem Deckmantel einer rigorosen totalitären Religionspolitik betrieben. Zwar wurde die Pflicht zur Verschleierung der Frau mit extremer Gewalt durchgesetzt, aber zugleich kamen unter dem Kopftuch so viele Frauen aus ländlichen Provinzen an die Universitäten wie niemals zuvor. Frauen aus konservativem Elternhaus, die sich unverschleiert nicht aus dem Haus getraut hätten, zogen plötzlich für ein Studium in die Städte. Sie bildeten die Basis für spätere demokratische Bewegungen. Gleichzeitig förderte das Regime unter Ahmadinedschad das Entstehen einer neuen Ausbeuter-Schicht in Form der Revolutionsgarden (Pasdaran) und der Sittenpolizei (Gasht-e Ershâd).
So bewässerte das Regime damals schon den Boden für die Aufstände von 2017/18 (Dey-Proteste) und 2019 (Aban-Proteste), die erstmals auch soziale Unruhen waren. Schon damals ging es nicht mehr nur um Reformen oder um eine Stärkung der Reformer unter den Mullahs, sondern um die Abschaffung des klerikalen Regimes, die Enteignung der neuen Ausbeuterschichten, kurz um eine echte Revolution.
Die Protestbewegung, die sich nach dem Tod der 22-jährigen kurdischen Iranerin Mahsa „Jina“ Amini am 16. September 2022 formierte, ist heute eine breite Revolutionsbewegung, die wesentlich von fünf Gruppierungen getragen wird:
- den Frauen
- Arbeiterinnen und Arbeitern
- den Jugendlichen
- Studierenden
- Angehörigen marginalisierter Ethnien
Die Frauen waren schon immer eine starke gesellschaftliche Bewegung im Iran. Ihr Bildungsgrad ist hoch und sie leiden überproportional nicht nur unter dem religiösen Terror, sondern auch unter Arbeitslosigkeit und sozialer Not.
Seit Oktober haben sich mehr als 30.000 Arbeiterinnen und Arbeiter an illegalen Streiks beteiligt. Bei mehr als 600.000 Menschen, die in dieser Zeit auf die Straße gingen, mag diese Zahl nicht so groß erscheinen. Bei einem Streik droht aber der sofortige Verlust des Arbeitsplatzes mit allen sozialen Konsequenzen. Insofern ist diese Bewegung unerhört erfolgreich und stark.
Zu den Stützen des Aufstands gehören die Jugendlichen und die Studierenden. Seit Oktober gab es Unruhen an 144 Universitäten und Hochschulen. Studierende sind besonders von der grassierenden Arbeitslosigkeit im Iran betroffen. Zwei Füntel der Arbeitslosen sind Graduierte.
Anfang Dezember 2022 schlossen sich 30 Jugendverbände zu einer Dachorganisation zusammen, die sich Neighbourhood Youth Alliance of Iran (Ettehâd-e Javânân-e Mahallât-e Irân) nennt. Sie bildet heute eines der stärksten organisatorischen Zentren der Bewegung.
Medien und Journalisten im Iran
Diese Jugendlichen sind stark international orientiert. Sie sind gut vernetzt und beschaffen sich ihre Informationen und kulturellen Vorbilder aus dem – vorzugsweise westlichen – Ausland. 50 Millionen der insgesamt 85 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner des Iran sind unter dreissig. Sie kommunizieren über schwer zu kontrollierende soziale Netzwerke. Sie lesen nicht die Zentralorgane des Staatsapparats.
40 Millionen Menschen nutzen Telegram. 92 Prozent der Menschen nutzen soziale Netzwerke, 70 Prozent der Haushalte besitzen eine (verbotene) Satellitenschüssel. Die meistgenutzten Fernsehsender sind Iran International, Manoto, BBC Persian, GEM TV und Voice of America. Das iranische Staatsfernsehen ist weit abgeschlagen.
Fast alle kritischen Medien wurden inzwischen verboten, zahlreiche Medienschaffende inhaftiert oder ermordet. Mehr als 80 Journalist*innen wurden seit Oktober ins Gefängniss geworfen, in aller Regel ohne Gerichtsverfahren und Rechtsbeistand. In keinem Land der Welt sitzen aktuell so viele Journalist*innen im Gefängnis wie im Iran. Auf dem Index zur Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen steht der Iran auf Platz 178 von 180 gelisteten Ländern.
Wie geht es weiter? Frisst die Revolution ihre Kinder?
Bis heute hat der Aufstand mehr als 530 Todesopfer gefordert, darunter mindestens 70 Kinder. Das Regime hat mehr als 20.000 Menschen interniert und bislang 68 politische Gefangene hingerichtet. Aber die Revolution konnte nicht gestoppt werden. Freilich braucht sie einen langen Atem, denn der Staat und seine von ihm gesäugten Eliten sind mächtig.
Viele vermissen im Aufstand klare Anführer. Aber genau das könnte sich als Stärke erweisen. Der Protest ist dezentral, weil er sich aus vielen Quellen speist. Unter den Aufständischen finden sich liberale Freidenker aus den ganz alten Eliten „der nördlichen Vororte Teherans“ ebenso, wie die Reste der linken Volksmodschahedin, Anhänger des alten Schah-Regimes ebenso wie Angehörige ethnischer Minderheiten (Kurden, Aserbeidschaner, Mazanderaner und andere). Und natürlich unterstützt der Westen den Widerstand (oft weiß er aber gar nicht, wen er da unterstützt: ich habe an anderer Stelle darüber berichtet wie die CSU auf Veranstaltungen des linken MEK auftritt …), vom Ausland gesteuert aber wird der Widerstand nicht.
Und bricht das Regime auseinander? Es gibt zumindest erste Anzeichen für bröckelnde Fronten.
- Im Januar 2023 wurde der bisherige Polizeichef ersetzt.
- Ebenfalls im Januar wurde der ehemalige stellvertretende Verteiigungsminister Alireza Akbari hingerichtet.
- Schon im November 2022 wurde der Gouverneur der Provinz Teheran ausgetauscht.
- Immer wieder gibt es Vertreter des Klerus, die sich öffentlich für Reformen oder gar eine grundsätzliche Neuorientierung des Staatswesens einsetzen.
- Künstler und andere bekannte Intellektuelle haben inzwischen scharenweise öfentlich gegen das Regime Stellung bezogen und das Land verlassen.
Ich fürchte, der Blutzoll, den das iranische Volk wird bezahlen müssen, wird hoch sein. Und ich fürchte, die Revolution hat noch einen langen Weg vor sich. Aber ich bin zutiefst überzeugt davon, dass sich der Wille zur Freiheit im iranischen Volk nicht auf Dauer unterdrücken lässt. Dazu ist die Kultur in diesem Land zu hoch entwickelt, das Bildungsniveau zu hoch, die Kraft zum Widerstand zu stark. Frau, Leben, Freiheit – dieses Motto wird dem Iran die Befreiung von der Diktatur der Mullahs bringen. Hoffentlich wird die Ordnung danach eine demokratische sein. Alles hängt von den mutigen Frauen und den Jugendlichen ab.
Wer etwas für die politischen Gefangen im Iran tun will, der kann helfen. Ich weiß, dass es derzeit viele Menschen und Organisationen auf der Welt gibt, die unsere Unterstützung benötigen. Der Verein für Nothilfe e.V. ist auf Spenden zur Unterstützung politisch Verfolgter im Iran angewiesen:
Illustrationen © Michael Kausch
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2 Antworten
Vielen Dank für diese Einordnung, Mick. Und Danke für den Hinweis auf den Verein für Nothilfe. Da werde ich gleich mal was spenden.
Lieber Lutz: Vielen Dank. Spenden an den Verein für Nothilfe sind steuerlich absetzbar. Der Verein ist als gemeinnützig anerkannt und stellt gerne Spendenbescheinigungen aus.