Mit der Arbeit im Home Office sparen wir alle erheblich Zeit ein, heißt es.  Wir sparen uns die lästige Fahrt in Bahn oder Auto zwischen Zuhause und Arbeitsplatz.  Aber wollen wir das wirklich? Ist diese Zeit zwischen Familie und Boss wirklich immer „verlorene Zeit“? Gibt es das überhaupt: „verlorene Zeit“? Ich denke, wir sollten da nicht vorschnell urteilen oder gar die neue nachcoronale Arbeitswelt  bejubeln.

Damian Fowler hat in einem sehr bemerkenswertem BBC-Beitrag den Wert der Zeit zwischen Arbeitsplatz und Büro kritisch hinterfragt:  „Niemand pendelt gerne – aber da viele von uns jetzt zu Hause arbeiten, wird uns klar, dass die Fahrt zum und vom Büro einen nützlichen psychologischen Zweck hatte.“

Die Fahrt zwischen Büro und Zuhause trennte beide Sphären eindeutig voneinander: die Arbeit ist das eine, das zuhause ist das andere.  Damian zitiert eine Studie der Harvard Business Scholl: „Das Pendeln ist ein Übergangspuffer“.  Der Studie zufolge bietet das tägliche Pendeln den Menschen die Möglichkeit, sich an einer „rollenklärenden Prospektion“ zu beteiligen, d.h. es gibt ihnen Zeit und Raum, über ihre bevorstehende Rolle nachzudenken. Sie können sich auf ihre Rolle als MitarbeiterIn oder Familienmitglied vorbereiten. 

Gleichzeitig erleben viele Menschen ihre Fahrtzeit zwischen Büro und Zuhause als Langeweile oder alternativ als Zeit für anregende Entspannung:

Sie lesen was auch immer: ein Buch, eine Zeitschrift oder eben News in ihrem Smartphone, jedenfalls Dinge außerhalb der Sphären von Büro und Familie. Kurz: In S-Bahn, Zug und Auto funktionieren sie nicht! Das heißt eigentlich funktionieren sie in ihrer Funktionslosigkeit, in einem fest definiertem Zeitfenster. Niemand schickt sie zum Rasenmähen, niemand faucht sie wegen ihrer Arbeitsleistung an.

Verloren zwischen Boss und Frau – ein Microsoft Manager berichtet

Mich erinnert das an ein Erlebnis, das ich vor mehr als 30 Jahren während eines Führungskräfteseminars bei Microsoft hatte. Dort brach plötzlich ein Kollege im Seminarkreis zusammen, als er von den Konsequenzen seines privaten Umzugs erzählte. Er war wenige Wochen zuvor mit seiner Familie vom anderen Ende der Stadt ganz in die Nähe der Microsoft-Zentrale gezogen. Seitdem vermisste er heftig die Fahrtzeiten zwischen Zuhause und Büro. Früher hatte er wenigstens jeden Tag zwei Stunden „für sich“, zwar nur in Bahn und Auto, aber immerhin „für sich“. Nun aber wechselte er fast unvermittelt zwischen beruflicher und privater Fremdbestimmung. Er drohte an dieser Distanzlosigkeit kaputt zu gehen und geriet in einer große psychische Krise. Er hatte sich selbst zwischen Boss und Ehepartnerin verloren. Das war sein eigener Eindruck, den er unter Tränen schilderte. 

Mit der Durchsetzung von Home Offices aber verstärkt sich dieses Problem. Wir verlieren den Puffer zwischen zwei Lebenswelten und ein Refugium, das uns in der Tat noch immer selbst gehört. Vielleicht ist die Zweit zwischen Wohnung und Büro eben doch nicht immer verlorene Zeit, sondern einfach Zeit, die sich dem Produktivitätsdruck entzieht.

Momo BuchDieses Phänomen ist nicht zu unterschätzen – bei allen Vorteilen, die der zitierte „beträchtliche Zeitgewinn“ durch das Home Office natürlich auch mit sich bringt. Zeit kann man weder einfach gewinnen, noch verlieren. Das wissen wir doch alle spätestens seit der Lektüre von „Momo“, oder?


Titelbild © Manfred Steinbach @ stock.adobe.com

Eine Antwort

  1. Leider zutreffend. Auch mir fehlt meine gute Stunde Zugfahrt 1-2 x pro Woche ins Büro bzw. nach Hause. Das waren insgesamt gut 4 Stunden Zeit. Zeit um konzentriert Dinge abzuarbeiten, Zeit um aus dem Fenster zu sehen und nachzudenken oder mal gar nicht zu denken, Zeit um Briefe zu schreiben (natürlich nicht, sondern um ausführliche private Mails oder WhatsApp Nachrichten zu formulieren) , Zeit um Protokolle fürs Ehrenamt zu schreiben, oder eigene Blogposts oder Artikel für den Corporate Blog, Zeit um Tweets zu lesen, Zeitschriften oder Bücher. Stattdessen rutscht man aus dem Bürostuhl direkt in das Familienleben. Da kann Mann auch schlecht sagen, ich gehe jetzt erstmal eine Stunde ins Kaffeehaus, um mich mir zu beschäftigen – sondern steigt gleich wieder voll ein; nahtlos von Kunden zu Kindern, in meinem Fall.

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