Gleich mehrere meiner Quellen stolperten über einen Leitartikel von Michael Naumann, Chefredakteur von Cicero, in dem dieser unter anderem sagt:
Im globalen Informationsgewitter ziehen die Datenmengen zur empirischen Erklärung der Welt und ihrer Ordnungsprobleme wie hastig vorüberfliegende, gewaltige Kumuluswolken durchs Internet. Es ist zugleich auch zum Rückzugsraum des Privaten geworden. Facebook, Twitter und die Fülle der Weblogs sind das Gegenteil von Öffentlichkeit, sondern allenfalls deren massenhafte Parzellierung – nicht selten missbraucht von der unsichtbaren Hand kommerzieller Interessen.
Facebook, Twitter und die Fülle der Weblogs – hier schreibt jemand, für den das alles offensichtlich „irgendwie eins“ ist. Nun, er hat es ja geschafft. In Twitter wurde ich auf den Artikel aufmerksam, einen Blogartikel schreibe ich gerade, und wenn der geschrieben ist, twittere ich, daß er fertig ist. Und alles, was ich twittere, wird auch in Facebook angezeigt. So gesehen hängt das alles ja doch irgendwie zusammen.
Anders verhält es sich aber mit seiner Definition von „Öffentlichkeit“. Wenn er schreibt, Weblogs und Twitter seien das „Gegenteil von Öffentlichkeit“, stockt man doch. Was meint er da wohl? Der Schlüssel dürfte die „massenhafte Parzellierung“ sein, von der er spricht. Ja, so ist das halt nun. Es steht nicht mehr nur in der Zeitung, was die Öffentlichkeit unisono denkt, meint und fühlt. Unisono? Wann wäre das denn richtig gewesen? „Die Öffentlichkeit“… solange die öffentliche Meinung noch die veröffentlichte Meinung war, also im letztem Jahrhundert bis fast zum Schluß, bestand die Pluralität eben darin, daß einige Verleger die Richtungen vorgaben, auch wenn dann doch in der einen oder anderen Publikation eine beinahe bunte Pluralität beobachtet werden konnte.
Heute nehmen viele Menschen Informationen über öffentliche Themen nicht mehr als Download wahr, sondern nutzen die Möglichkeit, überall mitzureden. Hier darf man nicht voreilig falsche Schlüsse ziehen, das ist auch im Kern nicht neu. Neu ist lediglich, daß man Unterhaltungen, die früher im Freundeskreis geführt wurden, heute einem ungleich größeren Kreis von Menschen zugänglich machen kann. Daß damit auch eher einfach strukturierte Stammtischgespräche mehr „Öffentlichkeit“ finden als früher, ist ein Nebeneffekt. Aber was ist denn daran so falsch? Internetausdrucker verwechseln all die durcheinanderschwirrenden Meinungen mit Politikverdrossenheit. Ein fataler Fehler, wie Stuttgart 21 zeigt.
Aber das ist ein Missverständnis. Wenn einer in den Siebzigerjahren das zwanzigsten Jahrhunderts fand, daß alle Politiker Gauner seien, Lügenpack, Versager, was auch immer, so wurde es vielleicht eher gesagt, seltener geschrieben. Aber Herr Naumann denkt vermutlich so: Wenn etwas geschrieben wird, am besten noch gedruckt, am besten bei irgendeinem namhaften Verlag, dann ist es „was richtiges“. Sonst nicht. Was ja nicht unsympathisch ist, die Welt sah früher ordentlicher aus. Heute ist es schwieriger, und auch zugegebenerweise verwirrender. Nicht nur für Herrn Naumann, der ja darauf hinweist, das Internet werde „nicht selten missbraucht von der unsichtbaren Hand kommerzieller Interessen“. Ich würde weiter gehen. Wieso nur kommerzielle Interessen? Da gibt es noch viel mehr Gründe, diversen Quellen zu misstrauen. Das wissen die Netizens schon seit Jahren:
On the Internet, nobody knows, you are a dog
Zurück zu Herrn Naumann und seinen Glauben an raschelndes Papier. Er schreibt ja auch noch:
Einmal mehr wird die Buchmesse in Frankfurt ihre Besucher mit mehr als 80.000 deutschen Erstauflagen überwältigen – die meisten davon sind Sachbücher. Theoretisch könnten wir alles wissen. Aber wer genau ist dieses „wir“? Die sogenannten Bildungsbürger, die im Durchschnitt, wenn es hochkommt, zehn Bücher im Jahr lesen? Studenten, die im Eilverfahren durch die einzigen Lebensjahre gehetzt werden, in denen sie jenseits beruflicher Verpflichtungen zur Lektüre der Klassiker greifen könnten – wollten die universitären Curricula sie nur dazu verpflichten? Politiker etwa, die keine Zeit mehr finden, geistige Anregungen oder gar seelischen Trost in einem Roman, einer Biografie oder in einem Gedichtband zu suchen? „Bildungsfern“ sind nicht nur die Einwandererfamilien, sondern auch wir, die alteingesessenen Bürger.
Ich bin auch ein großer Bücherfreund. Aber es gibt keinen Grund mehr, heute anzunehmen, daß man Bildung nur aus Büchern bekommen kann.
Bild: Michael Naumann, Quelle: Cicero.de
2 Antworten
Oh, das ist mal wieder ein sehr schöner Beitrag.
Ich weiß auch nicht, was Naumann da geritten hat. So schummrig altfränkisch ist der ja sonst nicht drauf. Man könnte meinen, sein Begriff der Öffentlichkeit stammt noch aus dem Wohnzimmer der siebziger Jahre, in dem sich die Familie einig vor dem Fernseher versammelte und kritisch die letzte Ausgabe von Dalli-Dalli reflektierte, damit der Vater am nächsten Tag über die Sendung bei einer Butterstulle in der Werkspause mit seinen Kollegen räsonnieren konnte. Was waren das aber auch für schöne Zeiten, in denen „Öffentlichkeit“ noch einzig über das ZDF sich definieren ließ. Und heute? Sohn Naumann facebookt, Tochter Naumann twittert, Mutter Naumann zieht sich Kochrezepte aus dem Blog und nur Vater Naumann sitzt einsam vor der Bücherwand. Nein, so hatte sich Jürgen H. das mit dem Strukturwandel der Öffentlichkeit nicht vorgestellt. Und schuld ist nur der Kluge. Wetten?