Jahre meines Lebens verschwende ich mit sinnlosem Tun. Und ich habe keinen einzigen Moment dabei ein schlechtes Gewissen oder ein schlechtes Gefühl. Denn ich habe mich freiwillig entschieden, das zu tun. Aber manch verschwendete Minute macht mich doch wütend – vor allem, wenn das Schicksal oder der Wille der Götter mich zu sinnlosem Tun verurteilt. Oft ist dabei mein Tun nicht ganz sinnlos, denn es führt immer zu dem gewünschten Ergebnis. Nur ist das Resultat eben nicht von Dauer. Will sagen: Es ist wie bei Sisyphos (hier im Bild zu sehen auf einem Gemälde Tizians). Am nächsten Tag geht der Scheiß von vorne los.
Wer Albert Camus‘ Essay Le mythe de Sisyphe gelesen hat, weiß, dass die ganze Anstrengung des Sisyphos im Grunde vergebens ist… und sinnlos. Und darin begründet sich die Absurdität des Ganzen. Man will seinem Tun einen Sinn geben, in der Welt einen Sinn suchen, obwohl sie doch gar keinen hat. Einen Fels einen Hang heraufzurollen, nur damit er umgehend wieder herunterrollt, um ihn erneut wieder hinauf zu bugsieren, das ist absurd. Und sinnlos. Trotzdem nimmt der Mensch diese ihm zugewisene Aufgabe an. Camus: „Der absurde Mensch sagt ja, und seine Anstrengung hört nicht mehr auf… Der Kampf gegen Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen. Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.“
Nun ist nicht es mein Problem, zentnerschwere Felsen durch die Gegend zu wuchten. Ich bin weniger ein steinerollender Sisyphos als ein vor ein anderes schier unlösbares und sich stets erneuerndes Problem gestellt: Wie von unsichtbarer Hand verwandeln sich alle Kabel in meiner Tasche in gordische Knoten, um einen weiteren Mythos der Antike zu bemühen.
Zur Perfektion gebracht haben diese freiwillige Selbstverknotung Kopfhörer und Ladekabel – egal ob für Handy oder iPod. Nur ein winziger Augenblick genügt und der Knoten ist kaum mehr zu lösen. Da hilft auch ein alexandrinisch beherzter Schwertschlag nicht. Denn danach wäre zwar der Knoten durchtrennt, aber es wären auch beide Kabel unbrauchbar. Und glauben Sie mir, ich sehne mich oft genug nach diesem Final Cut und irgendwann einmal werde ich zum Schwert greifen.
Denn je länger diese Fummelei aber dauert, umso ungeduldiger werde ich. Und mit sinkender Geduld sinkt auch die Bereitschaft, dem Problem feinmotorisch zu begegnen. Da kann ich ganz schön grob werden. Aber wer einmal ein solches Knäuel durch aalzu forsches Zerren und Ziehen versucht hat, zu entwirren, der weiß was das für Folgen hat. Und er weiß, was ein Kopfhörer in der Neuanschaffung kostet, denn selbiger bleibt in der Regel dabei auf der Strecke…
Und während ich also knote und tüftle, mich dem bemitleidenswertem Sisyphos seelen- und schicksalsverwandt fühle, die Götter innrerlich verfluche, dann aber das Schicksal annehme, mich ihm stelle und entknote, und das jedes Mal auf’s Neue, wandert mein Geist in einen anderen Winkel der antiken hellenistischen Welt. Er wendet sich den großen antiken Mathematikern zu. Ich bilanziere vorsichtig:
Dieses Entwirrspiel betreibe ich seit Jahrzehnten, das ging so richtig in den Zeiten von Walkman und Discman los. Damals war es zwar nur der Kopfhörer, aber schon der war wirr. Wenn ich für jede Entwirrung im Durchschnitt 3 Minuten brauche, das Ganze sich etwa 200 mal im Jahr wiederholt, da ja auch andere Kabel in meinem Leben sich intriganterweise ineinander verschlingen (schauen Sie mal hinter Stereoanlage, Computer…) dann komme ich auf 600 Minuten pro Jahr. Das Ganze seit läuft über 33 Jahren, was etwa 19.800 Minuten ergibt. Und das sind 330 Stunden oder 13 Tage und 18 Stunden. Was hätte man in dieser Zeit nicht alles machen können?
Musik hören zum Beispiel: Verführerische Sirenengesänge, das Spiel der Hirtenflöten, Apoll auf der Lyra, Odysseus auf der Leier, Orpheus‘ Lieder für Eurydike…
Oder ganz banal einmal den ganzen iPod rauf und runter. Denn ungefähr so viel Musik habe ich auf das Gerät gespeichert. Das kann kein Zufall sein. Alles hängt irgendwie zusammen. Wie der Kopfhörer und das Ladekabel.