Jean-Claude Izzo: Mein Marseille. Eine Liebeserklärung.

Paris, Bordeaux, Nizza, Straßburg, Reims, St-Étiennes, Le Havre, Grenoble, Nimes, Aix, Tours, Annecy, Metz, Perpignan, Nanterre, Avignon, La Rochelle, Cannes, Colmar, Calais, Clichy, Troyes, Narbonne, Fréjus, Bayonne, Arles … oh ja, ich habe doch recht viele der größeren Städte Frankreichs in meinem Leben irgendwann besucht. Aber ein wichtiger Name fehlt auf dieser Liste. In einer Stadt bin ich nie gewesen. Dabei wollte ich immer schon dorthin …

Marseille

Nach Marseille will ich seit ich vor vielen Jahren die Romane von Jean-Claude Izzo entdeckt und mit dem Flic Fabio Montale den ein oder anderen Pastis in der „Bar des Maraichers“ im alten Hafenviertel geleert habe. Izzo ist seit 25 Jahren tot und ich fürchte sein Marseille ist auch weitgehend gestorben. Alors, ich werde es feststellen, denn ich werde im kommenden Sommer endlich hinfahren um nachzuschauen, was noch übrig ist vom Zauber dieser Stadt, den Izzo so wunderschön in seinen Büchern beschrieben hat.

Mein Reiseführer wird sein Buch „Mein Marseille“ sein. Die deutsche Erstausgabe erschien im Jahr 2003. Da war Jean-Claude Izzo bereits tot, viel zu jung verstorben mit nur 55 Jahren. Izzo wurde im Juni 1945 im Panier, im Marseiller Altstadt-Viertel, geboren. Er zog später nach Paris und arbeitete dort als politischer Journalist. Er war immerhon schon Fünfzig, als er mit seinen ersten Kriminalroman überregionale Bekanntheit erlangte. Die berühmte Marseille-Trilogie (Khéops, Chourmo und Soleo) erschien ab 1995 und spielt in seiner Heimatstadt Marseille, mit viel Lokalkolorit, Sozialkritik und reichlich derbem Humor.

Der kleine Band „Mein Marseille“ versammelt einige kurze Ausschnitte aus diesen Romanen, vor allem aber kleinere journalistische Texte über Marseille, wunderbare Liebeserklärungen an die Stadt, ihre Bewohner, ihre Geschichte und Alltagskultur. Izzo beschreibt das Licht, das die Stadt zu allen Tageszeiten verzaubert, die Gerüche, die sie durchziehen, das Sprachengewirr in den engen Gassen am Hafen. Er beschreibt die Weltoffenheit der Stadt, die als mediterrane Hafenstadt immer eine Brücke zwischen Europa und Afrika war.

Marseille - Melting Point und Multikulti-Hochburg

Er beschreibt diese Brückenfunktion für die Küche und für die Musik, für die Hautfarben der Menschen und für ihre Gesten. Er beschreibt Marseille als ewige Stadt des Exils, des Einwanderns und Auswanderns, der kulturellen Vermischung und Anreicherung. Er beschreibt Marseille als multikulturelle Stadt und sich selbst als Kind multikultureller Einflüsse.

Es gibt eine Stelle, in der er sich als Reisenden und Lesenden beschreibt und die mir besonders gut gefällt und dich ich gerne hier zitieren will und gegen die neualtmodische und neonationalistische Anbiederei an AfD und Front National stellen will:

„Das Blut, das in meinen Adern fließt, stammt nicht von einer Rasse, aus einem Land oder von einem Boden. Und auch nicht aus einer Nation. … Anderswo zu sein, ändert alles. Man sieht die Welt anders. Ich meine, dass ich überall zu Hause bin. Selbst in jenen Ländern, deren Sprache ich nicht beherrsche. Es genügt mir, einen Reisebericht oder einen Roman eines Schriftstellers zu lesen, um mir sein Territorium und seine Erinnerungen anzueignen. Und schon werde ich zu seinem Zwilling. Dieses Gefühl habe ich zum ersten Mal empfunden als ich die „Heimkehr nach Tipasa“ von Camus las. Ich fühlte mich als Algerier. Später, nicht sehr viel später fand ich mich in Äthiopien wieder. Genauer gesagt, in Harar. In Fortsetzung von Rimbaud. Ich war kaum zwanzig Jahre alt. Ich hatte etwas von der Freiheit des Umherirrenden gelernt, die darin besteht, unterwegs zu sein, nicht um zu entdecken, Leute zu treffen und Wissen zu sammeln, sondern um im anderen aufzugehen und in seinen Augen jene andere Welt zu sehen, aus der man kommt. Somit bin ich auch Äthiopier gewesen. Eine Nacht in Kairo bin ich Ägypter gewesen. Und Türke mehrere Male. Aber auch Ire, und aus Liebe Argentinier. Es kommt noch oft vor, dass ich Italiener oder Spanier bin. …

Ich würde es gern glauben …, dass es zu nichts Nutze ist woanders hinzugehen, wenn man sich nicht im anderen wiedererkennt. Ich glaube, deshalb sehen die meisten Ferienlager so aus wie befestigte Lager. Man ist nicht darauf aus, den anderen zu treffen. Man will nur, was ihm gehört. Sein Meer, seine Stränge, seine Kokospalmen. …

Ich hole meinen Pappkoffer heraus und träume davon loszuziehen. Um sie [die anderen] zu treffen und zu teilen, was uns gemeinsam ist: das Glück der Welt. Dieses Glück, das ich verspüre, wenn die Luft stillsteht und ich an heißen Sommertagen in die Haut eines Indianers schlüpfe, indem ich Louis Owens lese.“

Und WIR streiten über kulturelle Aneignung und Liedtexte von Udo Lindenberg. Wie dumm und kläglich …
Wer darüber hinaus wissen will warum Knoblauch in die Küche gehört wie die Zwiebel und was eine gute Bouillabaisse ausmacht, der lese diesen … äh … Reiseführer, nein, diese Liebeserklärung an Marseille: Jean-Claude Izzo: Mein Marseille, Unionsverlag.

Illustrationen © Michael Kausch

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2 Antworten

  1. „Ha!“ möchte ich begeistert aufschreien und in die Hände klatschen. „Endlich.“
    Zwar ist es wieder, wie so oft, ein Buch, von dem ich noch nie gehört habe.
    Aber in Marseille, da war ich schon mal
    Wenigstens was.

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