01. Juli 2012 – überall in Deutschland
Die EM 2012 ist vorbei, zurück bleibt ein fahler Beigeschmack. Gewonnen hat mit großer Souveränität die spanische 11.  Die hiesigen Händler dürfen nun die letzten Deutschland-Fanrtikel, wenn sie sie nicht schon nach dem Halbfinale aus den Regalen geräumt haben, einlagern. 2014 zur WM in Brasilien können sie sie ja wieder hervorkramen. Zeit wird’s auch, die letzten Autos abzuschminken, die Fahnen und Rückspiegelüberzieher und ähnlichen Firlefanz von den Fahrzeugen zu nehmen, wenn dies nicht ohnehin von irgendwelchen Spinnern schon längst bewerkstelligt wurde. In einigen Städten nämlich waren Fahnen und andere schwarz-rot-golden gefärbte Verzierungen abgebrochen oder geklaut worden. Stattdessen fanden die Fahrer einen Zettel: Lieber Autofahrer, liebe Autofahrerin. Ich habe Ihre Deutschland-Fahne entfernt. Egal aus welcher Motivation Sie diese Fahne angebracht haben, sie produziert in jedem Fall Nationalismus. Diese Fahne steht nicht für Fußball oder irgendein Team, sondern für Deutsche Identität.

Und damit sind wir mitten im Thema: Selten hat die Politisierung des Sports so viele teils bizarre teils ärgerliche Reaktionen hervorgerufen, wie in diesem Jahr. Was für ein Unfug zum Beispiel  ist es, Deutschlandfahnen am Auto anderer als Zeichen eines übersteigerten Nationalismus des Halters zu werten. Wer sich an das Sommermärchen 2006 erinnern mag, der weiß: Es gab kaum etwas, was nicht in schwarz-rot-gold getaucht war – und alle fanden’s gut.  Genauso bescheuert ist die Leserbriefdebatte in meiner Zeitung. Man erzürnt sich darüber, dass ein Teil der deutschen Mannschaft die Nationalhymne minicht tgesungen hat.  Besonders spitzfindige Beobachter mochten namentlich festmachen, dass gerade die Spieler mit Migrationshintergrund sich des Singens verweigerten: Podolski, Ösil, Kedhira, während die urbayerischen Pflanzerl Lahm, Badstuber, Müller, Schweinsteiger aus kräftigster Kehle schmetterten.  Was uns das sagen will, weiß ich nicht.  Vielleicht auch besser so – es reicht, wenn die Gazetten-Leserbriefschreiber lauthals fordern, man solle sich gefälligst an den Italienern mal ein Beispiel nehmen: Augen zu, Hand auf’s Herz und lauthals gesungen.

Dem einem sind die Fans zu nationalistisch (was sie de facto nicht sind), den anderen ist die Mannschaft zu wenig patriotisch. Und das sind mitnichten die einzigen Entgleisungen, die zu verzeichnen wären: Da wäre zum Beispiel das Thema Zamperoni.  Was soll die wütende Erregung gegenüber dem deutsch-italienischen Tagesthemensprecher Ingo Zamperoni,  der in der Halbzeit im Halbfinalespiel Deutschland – Italien während der Abmoderation lächelte, Dante zitierte, der besseren Mannschaft den Sieg wünschte und dem Ganzen eine persönliche Note gab.  Er sprach von seiner eigenen innerlichen Zerrissenheit. Die bodenlose Kommentare zu den Meldungen in den einschlägigen Nachrichtenplattformen sind absurd, strotzen vor Nationalismus und Borniertheit, dass man sich nur schämen kann. Tenor: Ein Moderator, der in einer öffentlich-rechtlichen deutschen Nachrichtensendung süffisant für Italien lächelt, und von unseren Gebühren bezahlt wird. Der verhöhnt den deutschen Fernseh- und Fußballzuschauer. Also uns – ja die ganze Nation. Der Mann gehört ausgewechselt.  Vor 70 Jahren wäre er wohl gleich ins… lassen wir das.

Das Beispiel zeigt die Unterkante dessen, was Fußballdeutschland auch ausmacht:  Ein schlechter Verlierer zu sein. Überhaupt scheinen viele Landsleute hier nicht einsehen zu wollen, dass Philipp Lahm und Co sang- und klanglos (hätten sie mal alle lieber die Hymne mitgesungen) gegen die Squadra azzura untergegangen ist. Beleidigte Fans quittierten das – übrigens auch öffentlich-rechtliche Radiosender  – mit Boykottaufrufen gegenüber Pizzerien und italienischen Eiscafés und schlagen vor, statt Cappuchino nur noch Filterkaffee zu trinken –  was natürlich ebenfalls kolossal peinlicher Unfug ist. Man kann fast sicher sein, dass es die Gleichen sind, die noch wenige Tage zuvor mit gleichem Hohn und gleicher Übrheblichkeit die Holländer nach Hause geschickt haben: Solange man auf der Siegerseite ist, ist’s noch witzig…

Und sonst?

Gab es da nicht mal einen Boykottaufruf von Tierschützern? Das hat so rein gar nicht funktioniert.  War vor einem knappen Jahr das Netz noch überschwemmt mit massiven Boykottaufrufen wegen der Abschlachtung der Straßenhunde, zeigen die TV-Quoten, dass sich davon rein niemand hat abhalten lassen, die EM zu schauen.  Angesichts der sensationellen Zuschauerzahlen im zweistelligen Millionenbereich kann man bilanzieren: Fußballdeutschland lässt sich die EM von niemandem vermiesen (außer von den Italienern): Weder von den Tierschützern noch von den Politikern, die nicht müde wurden, die Menschenrechtsverletzungen in der Ukraine, besonders den Fall Timoschenko immer wieder zur Sprache zu bringen. Nur – es interesiert halt offensichtlich niemanden, auch deren Boykottandrohungen blieben ergebnislos. Die Masse will Bilder aus dem Stadion sehen, ansonsten ist das Gastland komplett irrelevant. Und ob ein paar EU-Ageordnete ein Transparent ausrollen oder Politiker angekündigt haben, nicht nach Kiew zu fliegen – who cares? Auf einmal ist sie dann doch wieder irrelevant, die große Politik.

Noch ein Nachtrag zum Thema Politik: Haben Sie mitbekommen. dass Jogi Löw, Philipp Lahm, Lukas Podolski und Miroslav Klose kurz vor der EM Auschwitz besichtigt haben?  Nein?  Dann haben Sie vermutlich auch nicht mitbekommen, dass postwendend Stimmen laut wurden, es hätte der deutschen Mannschaft gut zu Gesicht gestanden, geschlossen dorthin zu fahren. Schließlich seien sie alle Repräsentanten des deutschen Staates – und da könne man ein gewisses staatsbügerliches Benehmen gefälligst erwarten. Also jetzt doch wieder?

Man darf gespannt sein, welche staatsbürgerlichen und moralischen Verpflichtungen den Kickern für die WM 2014 in Brasilien oder die EM 2016 in Frankreich mit auf den Weg gegeben werden: Die Möglichkeiten reichen von einem Besuch bei den Armenkindern in den Slums in Brasilien oder den entrechteten Indios bis zum Handschlag in der Normandie an der Omaha-Beach oder in Verdun…

Man fragt sich, wie das alles irgendwie zusammenpasst? Gar nicht. Und genau das ist der Punkt.

Können wir nicht einfach den Politikern die großen Gesten überlassen, den Kickern den Ball und den Spanieren den Titel gönnen?

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Die Reihe wird in unregelmäßigen Abständen fortgesetzt.
Was bisher geschah:

Teil 1: König Fussball im digitalen Zeitalter
Teil 2: Drin oder nicht drin? Das ist hier die Frage
Teil 3: Der Eine und der Andere. Anmerkungen vor dem Pokalfinale
Teil 4: Mit Hummer und Avocado gegen England – sehr analog und sehr teuer.
Teil 5: Der Wald von Birnham vor den Toren
Teil 6: Ein Neuer und schon wieder Ärger
Teil 7: Gut gescherzt, Freunde
Teil 8: Abfiff auf dem Mittelmeer

Eine Antwort

  1. Danke Lutz, das war eine wunderbare Zusammenfassung dieser so bizarren Veranstaltung, die mit ihren Randerscheinenungen bei mir immer wieder für übles Aufstoßen gesorgt hat, wie nur wenige davor. Zu ergänzen wäre nur, dass es immerhin beruhigend ist, dass unsere Fußballer nicht lauthals und ergriffen in Auschwitz die Nationalhmne gesungen haben, das wäre einigen dann auch wieder nicht recht gewesen … Aber was soll’s, man kann es ja nie allen Recht machen

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