Es ist in letzter Zeit in der Diskussion um das Internet eine gewisse Desillusionierung zu spüren. Das Internet sei „kaputt“, schrieb Sascha Lobo in „Spiegel Online“. Das ist überzogen. Natürlich löst das Internet nicht alle Probleme der Menschheit, den Hunger, den Krieg, die Ungerechtigkeit kapitalistischer Systeme. Es gibt aber hoffnungsvolle Ansätze. Eine davon ist der so genannte Shitstorm – ein Phänomen, das in letzter Zeit oft im Mittelpunkt eines medialen Streits steht: Für die einen der Ausfluss ungezügelter Mobgewalt und Denunziantentum per Internet, für die anderen Symbol für die wachsende Macht des Einzelnen im Zeitalter der sich rasch ausbreitenden digitalen Vernetzung.
Shitstorms haben auch die politisch-gesellschaftliche Dimension. Heute ist soziale Ungerechtigkeit das große Thema. Die Occupy-Bewegung und ähnliche Aktionen sind direkte Auswirkungen dieses weltweiten Trends. Shitstorms sind es auch, nämlich sozusagen die Fleischwerdung der neuen Macht des Kunden. In ihnen offenbart sich gleichzeitig der Unmut des Einzelnen über ein als „unsozial“ empfundene Marktwirtschaft, in der er sich zunehmend als Opfer sieht, und die Freude über das Gefühl, endlich etwas dagegen tun zu können. Es ist, als ob wir alle plötzlich auf die digtale Straße gehen und laut und vernehmbar ausrufen können: „Wir sind das Volk!“
Soziale Ungerechtigkeit ist natürlich nicht neu, das gab es immer. In den 20er Jahren, die in Amerika auch die „Gilded Age“, das Blattgold-Zeitalter, genannt wurde, gab es ähnliche Ungleichheit, wobei das Blattgold an der Fassade nur die dunklen Abgründe der Armut dahinter verbarg. Das Ergebnis war dann die Weltwirtschaftskrise und die Große Depression der 30er Jahre, aus die uns ja eigentlich nur der 2. Weltkrieg wieder rausgezogen hat. Einen 3. Weltkrieg, der einen ähnlichen Effekt haben könnte, wollen wir uns alle nicht wünschen.
Wie also kommen wir jetzt zu einer gesamtgesellschaftlichen Umorientierung, zu einer Beschneidung der Macht der Reichen, um zu einer Umverteilung, zu einer sozialen Gerechtigkeit zu gelangen? Hier werden für mich eindeutig die kommunikativen Möglichkeiten der Netzwerke eine Schlüsselrolle spielen. Denn dank Internet lässt sich heute auf Dauer nicht verheimlichen, was die Republikaner in Amerika machen, dass sie am liebsten die Steuern für die Reichen senken und für die Armen erhöhen wollen. Das kannst du noch so lang in irgendwelchen Floskeln hüllen, dass die Leute es glauben, aber irgendwann werden sogar die Teaparty-Leute sich miteinander unterhalten und feststellen: Ja halt einmal, irgendwie ist das doch nicht so gut, was wir da erleben. Und dann wird erst der endgültige Shitstorm losbrechen!
Dass im Internet-Zeitalter der Kunde immer mächtiger wird, wie Ossi Urchs und ich in unserem Buch „Digiale Aufklärung“ behaupten, ist seit einigen Jahren offensichtlich, nämlich dass der Kunde mehr Marktübersicht bekommt, mehr Preistransparenz, vor allem aber dass er durch die digitale Vernetzung ganz neue Formen der Kommunikation und der Dialogfähigkeit gewonnen hat. Aber wenn man sich mit Leuten unterhält, sagen die immer: „Ich habe das Gefühl, ich habe als Kunde immer weniger zu sagen.“ Das heißt aber nur, dass die Menschen noch nicht begriffen haben, welche Machtmittel ihnen heute zur Verfügung stehen.
Das ist ein Lernprozess. Shitstorming gibt uns die Möglichkeit, unsere Unzufriedenheit mal freien Lauf zu lassen. Plötzlich kann ich kann meinen Unmut gegenüber irgendeiner Marke und damit über diejenigen, die mich bevormunden oder unterdrücken, in Worte fassen und diejenigen anprangern, die meiner Meinung nach irgendwas verkehrt gemacht haben. Das ist das erste Spielen mit der neuen Macht, sozusagen die Stützräder, die man am Anfang braucht, weil man noch nicht mit dem Medium umgehen kann.
Die Gegenseite muss auch noch lernen, nämlich: Was machst du denn eigentlich, wenn du das Ziel eines Shitstorms wirst? Als zynischer Unternehmensberater könntest du ja durchaus sagen: Was hat der Shitstorm eigentlich Firmen wie Jack Wolfskin oder Nestlé wirklich geschadet? Nicht dramatisch. Die haben vielleicht mal kurzfristig den einen oder anderen Einbruch gehabt. Aber die Unternehmen stehen heute noch genauso da wie vorher. Also, wenn so etwas passiert, duck dich ab 3 Monate und dann tauchst du wieder auf und machst weiter wie vorher. Warum ist das so? Weil die Verbraucher ja bei dem Shitstorm stehen bleiben, das heißt es geht nicht weiter. Das wird aber nicht immer so bleiben. Irgendwann werden die Leute lernen zu sagen: „Was mache ich denn stattdessen?“
Wir brauchen vielleicht so etwas wie eine digitale Genossenschaftsidee, wie sie Friedrich Wilhelm Raiffeisen, Robert Owen oder Ferdinand Lassalle im 19ten Jahrhundert angedacht haben. Aufs Internet-Zeitalter übertragen könnten das zum Beispiel Plattforme sein, wo man sich informieren und für sich ganz persönlich Konsequenzen ziehen kann. Wenn ich beispielsweise Nestlé nicht mag, weil sie die Regenwälder abholzen, ich aber weiterhin das Verlangen nach Schokoriegeln habe, dann würde mir eine solche Plattform sagen, wo ich welche herkriege, ohne mich an der Umwelt zu versündigen. Das wäre ein Geschäftsmodell!
Die Aufgabe ist eben nicht bei dieser Desillusionierung stehen zu bleiben, sondern aus der Desillusionierung die Chance für Veränderung zu erschaffen. Erst durch diese „digitale Veränderung“ werden Strukturen so aufgebrochen, dass etwas Neues entstehen kann. Wenn es der Automobil-Industrie gut ginge, dann würden sie ja nicht überlegen, ob sie in Zukunft so weitermachen sollte wie bisher und immer nur mehr Autos bauen. Heute überlegen Autobauer auf der ganzen Welt, wie sie die Kraft der Vernetzung nutzen und ihr Geld künftig mit Mobilitätskonzepten, also Service rund um das Auto verdienen können. Manchmal bedarf es eben solcher kathartischen Effekte, eben eines Shitstorms, der die Dinge so erschüttert, dass man anfängt, ganz neu nachzudenken. Wenn durch dieses neue Nachdenken die gesellschaftlich wie wirtschaftlich relevanten Kräfte, die nicht mehr nur den Marktmechanismen unterworfen sind, einen Kanal finden, um weite Teile der Bevölkerung schnell und einfach zu erreichen und sie zu kollektivem Handeln zusamenführen, ist schon viel gewonnen.
Beispiele für solches kollektive Handeln zum Nutzen aller gibt es bereits viele. Wikipedia hat sich niemals den wirtschaftlichen Erfolg auf die Fahne geschrieben. Sie haben sich auch nie vorgenommen, eine bessere Form der Arbeitsorganisation zu entwickeln als Encylopedia Britanica oder den Brockhaus-Verlag, sondern sie wollten nur die größte, beste, schönste Enzyklopädie aller Zeiten machen und haben sich einen Dreck darum gekümmert, was das wirtschaftlich bedeutet. Es gibt immer mehr Zusammenschlüsse dieser Art, die sich dem Prinzip des gemeinsamen Guten und des gemeinsamen Nutzens verschrieben haben und wo den Leuten die wirtschaftlichen Implikationen erst einmal völlig egal sind. Das Thema ist für sie so wichtig, dass sie ein Teil ihrer Freizeit zur Verfügung stellen und viel Energie investieren. Das ist ja im Grunde die Kernphilosophie der Open Source Bewegung. Das stellt den wirtschaftlichen Erfolg als grundsätzlich in Frage. Diese Nonmarket Forces, die immer stärker werden, haben das Potenzial, Märkte zu verändern.
Open Source stellt ja nicht das Profitstreben einzelner Firmen grundsätzlich in Frage. Es stellt in Frage, ob du soziales (oder nennen wir es vielleicht lieber kollektiven Ideenreichtum) in geistiges Eigentum umwandeln darfst. Das sind keine revolutionären Bewegungen wie in der Vergangenheit, bei denen es darum ging, die Wirtschaft sozusagen ganz über den Haufen zu schmeißen und sie durch eine ganz andere zu ersetzen. Stattdessen werden Märkte durch die Existenz nicht marktkonformer Einheiten in ihrem Charakter verändert. Das kann in allen möglichen gesellschaftlichen Bereichen der Fall sein, etwa in der Politik, im Urheberrecht und auch in der Kommunikation. Shitstorms sind so gesehen die Vorboten von gewaltiger Veränderung. Wir dürfen gespannt sein!