War’s das schon?
Meine Tochter schreibt keine Mails mehr. „Oh Papa, E-Mail ist doch so 20stes Jahrhundert“, meinte sie neulich. Stattdessen benützt sie Facebook, um mit ihren vielen „Freunden“ – oder das, was sie für Freunde hält – zu kommunizieren. Als sie kürzlich mit ihrem Freund Schluss machte, tat sie das sozusagen coram publico auf ihrer Facebook-Seite, unter reger Zuschauerbeteiligung: Die einen waren dafür, den Typ in die Wüste zu schicken, die anderen rieten ihr, es nochmal mit ihm zu probieren. Die Debatte endete eins zu null für die Wüste.
In der kleinen Analystenfirma, an der ich beteiligt bin, tobt gerade auch ein Streit darüber, ob E-Mail noch zeitgemäß sei. Eine Fraktion (und es sind diesmal komischerweise die Älteren) ist dafür, für die interne Kommunikation auf ein so genanntes „Microblogging“ namens Yammer umzustellen, das wie Twitter funktioniert, nur dass der Benutzerkreis auf die eigenen Mitarbeiter beschränkt bleibt. Wir schreiben uns zu viele Mails, meinen die Yammer-Anhänger, da hat man keine Übersicht mehr. Die Gegner (die Jüngeren, wie gesagt) scheuen vor der totalen Transparenz zurück: Da könne ja jeder alles lesen, da könne man ja niemandem mehr etwas im Vertrauen sagen. Das Ende der Debatte steht noch aus.
Ist die Blütezeit von E-Mail also vorbei? Dereinst wurde Mail als Durchbruch in der asynchronen Kommunikation gefeiert – spontan, witzig, oft rotzfrech, die allzu engen Grenzen von Grammatik und Rechtscheibung sprengend: Einfach ‚ne Mail abfeuern und vergessen. Der Empfänger wird sich schon zurückmelden, am besten innerhalb von 24 Stunden, sonst galt man als uncooler Kommunikationsmuffel. Alle klagten über prallvolle Mailboxen, aber das erste, was wir morgens alle machten (und immer noch machen) war, in das elektronische Postfach zu schauen.
Damit es etwas schneller ging, erfanden wir putzige kleine Zeichenfolgen, die – Punkt, Punkt, Komma, Strich – lachende oder weinende Gesichter ergaben, und die uns nach dem Motto ein Bild sagt mehr als tausend Worte die Mühe der ausgefeilten Formulierung abnahmen. Daneben setzten sich gewisse Buchstabenkombinationen in der e-gemailten Umgangssprache fest wie „ASAP“ (As Soon As Possible – aber bitte dalli!) oder „LOL“ (Laughing Out Loud – ich lache lauthals!) auch unter Nichtangelsachsen fest.
Neuerdings gibt es ein neues Kürzel, und er spiegelt vielleicht den Niedergang von E-Mail als Primärkanal der direkten Kommunikation wieder. „LDL“ schreiben sich vor allem Banker gegenseitig in die Mail. Das ist das Acronym für „Let’s Discuss Live“ – lass uns bitte außerhalb des Internets darüber unterhalten, also per Telefon oder – noch so eine Abkürzung – „F2F“, also „Face To Face“, von Angesicht also, vielleicht bei einem kühlen Bierchen in der Kneipe unten am Eck.
LDL und LDO (Let’s Discuss Offline) sind der Bankenkrise geschuldet, vermuten einige Beobachter. Den Bankern stecke wohl der Schrecken noch im Leib angesichts peinlicher Enthüllungen à la WikiLeaks. Als im vergangenen Jahr die US-Börsenaufsicht SEC eine hochnotpeinliche Untersuchung beim Bankhaus Goldman Sachs startete, waren sichergestellte E-Mails vom Firmenserver das Hauptbelastungsmittel der Anklage. Daher die Zurückhaltung, sich per E-Mail etwa über unterbewertete Kreditrisken oder windige Swap-Geschäfte zu unterhalten. Womöglich wird man die Geister, die man rief, am Ende nicht mehr los.
Diese Leute haben leider eine Lektion vergessen (oder gar nicht erst gelernt), die unsereiner schon in den Frühtagen des Internet aufgeschnappt hat: Schreibe niemals etwas in eine Mail, das du nicht auch auf eine Postkarte schreiben würdest. Apropos: Vielleicht wird ja der Niedergang von E-Mail zu einer Renaissance der Postkarte führen. Ich muss da mal meine Tochter fragen.
Lieber Tim: E-Mail oder Tweet oder auch E-Mail oder Posting – das ist auch so eine Frage aus dem 20. – also DEINEM – Jahrhundert.
Inzwischen sollten wir doch alle wissen, dass E-Mail natürlich ein klassischen Medium der alten Zeit ist, so wie eben E-Mail-Marketing auch. Aber diese alte Zeit wird nicht völlig vom Web 2.0-Zeitalter abgelöst. Mögen gedruckte Bücher untergehen, das E-Mail hat seine Existenzberechtigung als individuelle Mitteilung nach wie vor. Twittern und Posten wird man, wenn man etwas zu sagen hat. E-Mailen wird man, wenn man etwas JEMANDEN zu sagen hat. Tatsächlich ist Twitter ein wertvolles und heute noch unterschätztes Medium der unternehmensinternen Kommunikation. Aber den E-Mail-Posteingang wird es nur um jene schon immer unsäglichen E-Mails „an alle“ erleichtern. Wenn Du, lieber Tim, mir etwas zu sagen hast, wirst Du wohl auch künftig mir eine E-Mail senden. Und wenn’s Zeit hat und lieb gemeint ist, vielleicht auch eine Karte oder gar einen Brief. Würdest Du aber der Meinung anhängen, ganz allgemein irgendetwas zu sagen zu haben – dann wäre Twitter das geeignete Medium. Aber Du twitterst ja nicht wirklich viel …