Lesetipp: Franz Friedrich: Die Passagierin. Der grausame Engel der Geschichte im Sanatorium

Endlich: Seit dem Zauberberg habe ich mich in keinem Sanatorium so angeregt unterhalten wie in Kolchis mit der Passagierin von Franz Friedrich. Ein Lesepflicht-Buch über die Vergeblichkeit aus der Vergangenheit zu lernen, über das Elend des Exils, über Schuld und Hoffnung –  und auch wenn es nicht so klingt: ein Buch, das toll zu lesen ist.

Franz Fredrich hat es vor zehn Jahren schon einmal auf die Longlist für den Deutschen Literaturpreis geschafft, damals mit seinem Erstling „Die Meisen von Uusimaa singen nicht mehr“. Jetzt ist es ihm mit „Die Passagierin“ erneut gelungen. Wann endlich darf er die 25.000 Euro mal einsacken. Er hätte sie verdient. Zugleich würde es die Verkaufszahlen des Buches ordentlich nach oben schnellen lassen. Und das Buch hätte es erst recht verdient. „Die Passagierin“ war ja schon im Vorjahr für den Alfred-Döblin-Preis nominiert. Und den hat er auch nicht bekommen.

Der Plot: Per Zeitreise ins Sanatorium der Exilanten

Heather wurde schon als Jugendliche per Zeitreise – durch ein Wurmloch, das war’s dann aber auch schon mit wissenschaftlichem Hintergrundgestöber – ins Sanatorium von Kolchis evakuiert. In Kolchis treffen sich Exilanten aus allen Jahrhunderten zwischen – grob – 13tem und frühem 20tem Jahrhundert. Eine hübsche bunte Melange aus allen Kontinenten.

In Kolchis wurden sie einst für das Leben in der Jetzt-Zeit trainiert oder „resozialisiert“. Nach mehreren Jahren kehrt nun Heather für einen kurzen Urlaub wie einst Hans Castorp auf den Zauberberg nach Kolchis zurück. Und wie Hans Castorp, bleibt sie länger als geplant. Sie hofft durch eine neuerliche Konfrontation mit ihren Erinnerungen an das Sanatorium ihre offenkundige seelische Zerrissenheit heilen zu können. Denn sie leidet wie viele andere Zeit-Exilanten auch unter Einsamkeit und Depressionen. Warum das so ist, werden wir, die Lesenden, bald erfahren.

In Kolchis hat sich seit ihres ersten Aufenthalts viel verändert. Das Programm „Exil durch Zeitreise“ wurde beendet. Es gibt keine neuen Exilanten mehr. Das Sanatorium ist heruntergekommen, die Infrastruktur verfallen. Heather trifft auf andere beschädigte frühere Zeitreisende auf Erinnerungsurlaub, unter anderem auf Matthias, einem Exilanten aus den Bauernkriegen. Heather selbst wurde in der DDR geboren, gehört also historisch betrachtet zu den jüngsten Exilanten. Matthias hat in den Bauernkriegen gegen den Bauernkämpfer Thomas Müntzer gefochten. Er fühlt sich schuldig, stand er doch historisch auf der falschen Seite. Er konfrontiert sich mit der Frage: Hätte er die Geschichte beeinflussen können? Wie wäre die Geschichte verlaufen, hätte er anders gehandelt?

In diesem Roman geht es beständig um individuelle Verantwortung und um historische Erfahrung und stets um die subjektive Perspektive. Können wir die Welt verbessern? Hätten wir sie nicht verbessern können? Hätten wir sie verbessern müssen?

Der grausame Engel der Geschichte

Das sind große Themen, die Franz Friedrich aber erstaunlich leichtfüßig in eine wunderbare Erzählung einbettet. Katharina Herrmann erinnert in ihrer Rezension des Romans auf dem kulturgeschwaetz-Blog wunderschön an die Geschichte Walter Benjamins vom Angelus Novus, eine Geschichte, die ich gleichfalls liebe. Als Benjamin 1921 das Bild „Angelus Novus“ von Paul Klee erwarb schrieb er darüber in seinem berühmten Aufsatz „Über den Begriff der Geschichte“:

„Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muss so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, dass der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.“

Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte

Mein Angelus Novus steht am Berliner Dom

Und genau darum geht es in der Passagierin: Die Protagonisten blicken zurück auf das Elend des Vergangenen, das sie selbst angerichtet haben. Zugleich sind sie zum Fortschritt verdammt, der sich aus ihren Erfahrungen definiert. Sie sind unrettbar mit ihrer Vergangenheit verbunden und damit in ihrer Schuld verstrickt. Deshalb leiden die Zeitreisenden unter ihrem Exil wie alle Exilanten zeitlebens unter ihrem Exil leiden müssen. Als Zeitreisende sind sie von ihren Erfahrungen abgeschnitten. Das auch ist die Quelle der psychischen Schmerzen von Heather. es sind Phantomschmerzen, Schmerzen, die aus ihrer Vergangenheit herrühren, von der sie durch ihr Exil abgeschnitten wurde. 

Aber letztlich sind wir ja alle von unseren Erfahrungen abgeschnitten, weil wir das Erfahrene nicht mehr ändern können. es ist vergangen, abgeschlossen. Temps perdu.

Franz Friedrich ist ein Zeitreisender, seit zehn Jahren schon

Am Konzept der Zeitreise hat Franz Friedrich sich schon vor neun Jahren abgearbeitet, damals noch recht experimentell in seinem hybriden Roman „25 05 2015 – Der letzte Montag im Mai. Ein Zeitreiseführer von Franz Friedrich“ der bei Fischer nicht in gedruckter Form, sondern ausschließlich als App für Apple und Android erschienen ist. Darin lies er seinen Ich-Erzähler mehr oder weniger planlos als Reiseführer durch Berlin wandern und Großstadtimpressionen für Touristen „aus der Zukunft“ sammeln.

Der Reiseführer übersetzt als Avatar für diese Zukunftsmenschen verschüttetes Wissen und Traumerlebnisse aus dem Jahr 2015 und erklärt zum Beispiel, dass man das Wasser aus den Berliner Leitungen des Jahres 2015 tatsächlich ohne Bedenken trinken kann und dass eine binäre Unterscheidung zwischen Mann und Frau im Berlin 2015 noch durchaus üblich ist (oder war). Für die Lesenden ergeben sich so manche überraschende Erfahrungen, erblicken sich doch ihren Alltag durch die fremden Augen des Reisenden aus der Zukunft, also aus überraschender Perspektive.

Die Passagierin ist ein leichtes Buch zum schweren Thema

Ist „Die Passagierin“ Science Fiction? Nein, denn es handelt sich nicht um Science. Der Roman handelt von zwischenmenschlichen Beziehungen und von gesellschaftlichen Möglichkeiten und Perspektiven. Die Zeitreise ist hier nur eine Fiktion, um Vergangenheit und Zukunft, Erfahrung und Hoffnung miteinander zu konfrontieren. Heather und Matthias konfrontieren ja nicht Bauernkriege und DDR-Alltag, sondern das Konzept von Erfahrung und Schuld mit Hoffnung auf Zukunft. Dabei bleibt „Die Passagierin“ eine wundervolle Erzählung in klarer und kräftiger Sprache, schön und unterhaltsam zu lesen, ein anregender Roman für kalte Abende. Leseempfehlung? Unbedingt!

Franz Friedrich: Die Passagierin. S.Fischer Verlag.

Illustrationen © Michael Kausch

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