Beim Zusammenstellen des Literarischen Quintetts, das ich hier gestern veröffentlichte, sind mir Notizen zu fünf Büchern in die Hände gefallen, die ich den gestrigen Besprechungen dringend hinterherwerfen muss. Da gibt es Bezüge, die nicht verloren gehen dürfen. Im Hypertext-System eines Blogs geht das ja einfach mittels Verlinkung. Früher hat man das umständlich mit kleinen Zettelchen im Zettelkasten erledigt. Aber wer kennt das heute noch, einen Zettelkasten? Meiner war in einer alten Hoffmann-Idealstärke-Kiste angelegt und immer randvoll …
Hanns Zischler: „Kafka geht ins Kino“
Gestern habe ich hier „Amerika“ von Franz Kafka vorgestellt und darauf hingewiesen, dass ich großer Kafka-Verehrer bin und Kafka vor langer Zeit mein Abitur-Thema war. Heute nun möchte ich ein Buch empfehlen mit dem seltsamen Titel „Kafka geht ins Kino“. Geschrieben hat es der großartige Schauspieler Hanns Zischler, erschienen ist es in zweiter Auflage 2017 bei Kiepenheuer.
Das Buch widmet sich in einer Aufsatz- und Materialsammlung den zahlreichen Kino-Besuchen Kafkas, seinen verstreuten und zerstreuten Anmerkungen zum Film. Es ist eine ganz wunderbare Fundgrube für alle Freunde der Filmkunst, der Filmgeschichte und für Freunde Kafkas, eine reich bebilderte Grubenleuchte für Cineasten.
Auf Grundlage von Tagebuchnotizen rekonstruiert Zischler Kinobesuche Kafkas und erzählt kenntnisreich über die Geschichte von Lichtspielhäusern, Schauspielerinnen und Regisseuren, rekonstruiert Beziehungen und gedankliche Assoziationsketten, nimmt uns mit zu den Bordellbesuchen, die Kafka gemeinsam mit Max Brod in Paris unternahm. Und so finden wir uns früher oder später natürlich mitten in den von Walter Benjamin beschriebenen Pariser Passagen wieder. Ihr seht: Auch dies ist ein Reisebuch der Phantasie.
„Im Kino gewesen. Geweint. … Maßlose Unterhaltung“. Ich habe dieses schöne Buch in der wunderbaren „Literaturhandlung“ im Jüdischen Museum am Münchner St. Jakobsplatz erstanden, für die ich an dieser Stelle gerne ein wenig Werbung machen möchte. Koyf es!
Robert Walser: „Geschwister Tanner“
Der Robert Walser mag nicht so berühmt sein wie der Martin, aber ich habe von Robert wohl mehr gelesen, als von seinem berühmteren Namensvetter.
Robert Walser, geboren 1878, Deutsch-Schweizer, stammte aus einfachen Verhältnissen und galt als psychisch krank und war lange Jahre in psychiatrischer Behandlung, die letzten Jahre seines Lebens stationär in der Heil- und Pflegeanstalt Herisau.
Zu seinen größten Bewunderern gehörte Walter Benjamin, dessen „Berliner Kindheit“ gestern Thema war. Durch Benjamin habe ich Robert Walser kennengelernt.
Die „Geschwister Tanner“ sind sein erster Roman, geschrieben 1906. Vorgestellt wird das Leben des Bankangestellten Simon Tanner und seiner vier Geschwister. Ich bin mir nicht sicher, aber es dürfte sich um eines der ersten literarischen Werke deutscher Sprache halten, in denen ein Angestellter als Protagonist wirkt. Insofern ist dieser Roman literaturhistorisch wohl kaum zu überschätzen. Ich habe ihn einfach gerne und mit Gewinn gelesen. Er hat mich an spätere Werke von Kafka (Schon wieder!) erinnert, „vorerinnert“ muss man dann wohl sagen. Das Schicksal Tanners ist ebenso hoffnungslos, wie das Schicksal der Antihelden bei Kafka, nur ist die Sprache Walsers eine leichtere. Walser schreibt mit der federnden Schwere des psychisch Kranken.
Cees Nooteboom „Paradies verloren“
„Paradies verloren“ von Cees Nooteboom ist ein Sonntagsbuch, ein Engelbuch. Und bei einem Engelbuch MUSS ich einfach an den Angelus Novus denken, also noch- und abermals an Walter Benjamin.
Und es ist ein Reisebuch, wie viele der Bücher der #tagesbuch-Reihe im Jahr des Nicht-Reisens. Worum geht es?
Es geht um einen Bildband über Friedhofsengel, den der Autor in einem Flug nach Berlin kennen lernt. (Wem fallen da nicht sofort Otto Sander und Bruno Ganz aus dem Himmel über Berlin ein?). Dann geht es um ein Engel-Projekt im australischen Perth. Und es geht um die Kultur der Aborigines und um die Schwierigkeit zwischen den Kulturen der Europäer und der australischen Ureinwohner zu vermitteln. Ob nun die Aborigines oder die Engel den Weg zum Paradies weisen bleibt offen. Vielleicht ist es aber ja doch die Liebe, die im Roman natürlich auch eine Rolle spiel. Wäre da nicht auch noch eine Vergewaltigung in Brasilien …
Hui, es geht mal wieder drunter und drüber bei Nooteboom und immer wenn der Leser glaubt, er hätte was verstanden wird er vom Autor gleich wieder aufs Neue aus dem Paradies der Sicherheit des Verstands vertrieben.
Mit einem Happy End ist nicht zu rechnen. Nooteboom ist ein teuflischer Erzengel Gabriel der als großartiger literarischer Verführer den Leser stets das Paradies zeigt, aus dem er ihn sogleich kalt lächelnd vertreibt. Ein schönes Buch für ewig trostlos Reisende.
Günter Grass: „Der Butt“
Bei der Erinnerung an Tolkiens „Herr der Ringe“ konnte ich mir den Hinweis auf Günter Grass nicht verkneifen. An seinem „Butt“ bin ich im Sommer 1980 gescheitert, um anschließend nach Mittelerde zu fliehen. Es war die Flucht aus einer Liebes- und Lebenskrise in jungen Jahren. Da wog der Butt zu schwer.
Heute also: Günter Grass. In Israel durftest du auf deine alten Tage nicht mehr einreisen. Und viele haben dich nicht mehr gelesen. Weil sie dich mit 17 Jahren in die Waffen-SS eingezogen hatten. Und weil du dir schwer tatst darüber später offen zu reden. Dass Israel das Recht hat ehemaligen Mitgliedern der SS die Einreise zu verweigern ist unbestritten. Und Israel muss auch nicht den Einzelfall berücksichtigen. Die Shoah kennt auch keinen „Einzelfall“.
Den vielen kleinen nicht-jüdischen Ratten, die über dich hergefallen sind, spreche ich aber jedes Recht dich zu verurteilen ab. Dies vorweg. Und nun zum Butt.
Ich habe ihn, wie schon angemerkt, nicht zu Ende gelesen. Ich bin an ihm kläglich gescheitert. Zu viele Köchinnen – ich glaube, es sind deren neun – verdarben mir den Brei. Grass versucht die ganze Weltgeschichte zu erklären. Es ist, als wäre Peter Weiss als Dostojewski wiederauferstanden.
Vierzig Jahre ist es nun her, dass ich mir dieses irrsinnige Werk vorgenommen habe. Von Walter Benjamin ist der schöne Satz überliefert „Echte Polemik nimmt ein Buch sich so liebevoll vor, wie ein Kannibale sich einen Säugling zurüstet“. Ich bin an diesem monströsen Kind erstickt. Ich bin damals geflohen. Nach Mittelerde.
Von Grass habe ich immer eher die kleinen Formen bevorzugt. „Katz und Maus“ liebe ich. „Das Treffen in Telgte“ ebenso und auch „Kopfgeburten“. Auch mit den älteren Romanen kam ich noch klar, mit der „Blechtrommel“ und mit den „Hundejahren“ sowieso.
Vielleicht bin ich inzwischen reif für den Butt. Ich werde es noch einmal versuchen. Er bekommt noch eine Chance. Und sie auch, die Ilsebill. Mal sehen. Mal lesen.
Peter Schneider: „Der Mauerspringer“
Gestern habe ich Christoph Meckel angeführt, und wo Meckel ist, darf Peter Schneider nicht weit sein. In meinem Leben gehören die beiden immer irgendwie zusammen.
„Der Mauerspringer“ erschien 1982 und handelt von deutsch-deutschen Befindlichkeiten und Dialogen in den frühen achtziger Jahren, vor allem aber von Mauerspringern, von Menschen, die über die Mauer sprangen, von Ost nach West, vor allem aber auch von West nach Ost, also Hin und Zurück, mal um ins Kino zu gehen, mal um Freunde zu treffen, mal einfach nur so, um Vopos und Westpos zu foppen.
Anfang der achtziger Jahre war Peter Schneider einer der wenigen Westlinken, die sich mit der „deutschen Frage“ beschäftigten. Für die meisten war diese Frage schon beantwortet. Es gab eben eine DDR und eine BRD und gut so. Dass sich das einmal ändern würde, daran glaubte niemand und vermutlich wollten das – im Westen – auch nur wenige. Die Deutschen hatten sich von wenigen Ausnahmen abgesehen – Biermann ist zu nennen, auch Willy Brandt, der große Schmerzensmann – mit der Mauer einfach abgefunden. Die Rechten übrigens auch, entgegen ihren öffentlichen Glaubensbekenntnissen zur deutschen Einheit. Damit verhielt es sich wie mit dem Bekenntnis zur ehelichen Treue christlicher Politiker nach dem Puff-Besuch. Die Haltbarkeit der Mauer war eben nicht nur das Resultat der betonierten politischen Verhältnisse zwischen West und Ost, sondern eben auch das Resultat einer spezifisch deutschen Duldsamkeit und Hörigkeit.
Werner Herzog hat den Mauerspringer im SPIEGEL damals ganz wunderbar besprochen:
„Was würde geschehen, wenn Italien geteilt wäre und eine Mauer mitten durch Rom gebaut würde? Vermutlich würden die Leute sie einfach wegklauen, Stein um Stein, um sie zum Häuserbauen oder für Pizza-Öfen zu verwenden.“
Herzog weist darauf hin, dass Peter Schneider die Mauerspringer als Regelverletzer beschreibt und als diejenigen, die noch ein letztes anarchisches Aufbegehren in der faden BRD-Gesellschaft aufleuchten lassen. So ist es. Ein auch heute noch erfreuliches Buch. Und damit schlussendlich ein heller Hoffnungsschimmer nach all den irrlichternden Kafkas, Walsers und Nootebooms.