Als Kind musste ich immer den Sommer in den Bergen verbringen. Mit 17 Jahren fuhr ich zum ersten Mal in den Ferien ans Meer: an die französische Atlantikküste und ans Mittelmeer. Unvergessen meine Freunde Rainer und Jockel, unvergessen der alte Käfer, mit dem wir unterwegs waren und unvergessen natürlich auch Isabelle aus dem Perigord …
Das prägt. Der Sand zwischen den Zehen – und nicht nur da, das Salz auf den Lippen – und nicht nur dort. Und immer der Geruch von Fisch in der Nase. Heute kann ich sagen, dass mich Berge zu ersticken drohen, dass das Meer mir aber Weite und Weitblick verschafft. Außerdem wird es mit dem Alter immer mühsamer Berge zu besteigen. Wie schön ist es hingegen am Meer mit einem Buch im Schatten zu sitzen und von fernen Inseln zu träumen. Fünf Bücher, die ausreichend nach Fisch stinken empfehle ich für die nächste Reise ans große Wasser:
Caroline Alexander: Die Bounty. Die wahre Geschichte der Meuterei auf der Bounty
Die Meuterei auf der Bounty hat mich immer fasziniert. Und eigentlich ist die Geschichte und vor allem die Erstverfilmung mit Charles Laughton als Captain Bligh und Clark Gable als Fletcher so schön, dass man die historische Wahrheit eigentlich gar nicht wissen möchte. Eigentlich. Wenn da die Neugier nicht wäre. Und die ganz wunderbare Zeitschrift „Mare“. Letztere nämlich hat mich dazu verleitet das Buch von Caroline Alexander zu kaufen und zu lesen „Die Bounty. Die wahre Geschichte der Meuterei auf der Bounty“.
Das Buch selbst ist mindestens so spannend wie der Film. In Wirklichkeit gab es keinen skrupellosen Kapitän und keinen ehrenhaften Fletcher, sondern – man wagt es heute kaum zu schreiben – nach langer Seefahrt ausgehungerte Matrosen, die offenbar den Sirenenklängen oder aber den süßen Lotusfrüchten der Südseeschönheiten erlagen. Kurz: sie waren sexuell ein wenig ausgeblutet und damit der britischen Seefahrerdisziplin abhanden gekommen – um es vorsichtig zu formulieren. Das dionysische Moment obsiegte und machte die Aufständischen zu Aussteigern im übertragenen und den Kapitän mit seinen Getreuen zu Aussteigern im wörtlichen Sinne. Letztere wurden „ausgebootet“.
Wer sich also an langen Winterabenden ein wenig in die Südsee träumen möchte, dem sei die wahre Geschichte der Meuterei auf der Bounty ans Herz und ins Regal empfohlen.
Und zwischendurch kann man sich ja den Film, natürlich den ersten von 1935, auf den Bildschirm ziehen. In einer Nebenrolle ist dort übrigens Movita Castaneda als blutjunges Tahiti-Mädchen Tehani zu sehen.
Das ist nur insofern bemerkenswert, als sie 1960 Marlon Brando heiratete, der dann 1962 in der ersten Farbverfilmung der Meuterei auf der Bounty den Fletcher Christian spielte. Muss man sich nicht merken, ist aber irgendwie auch eine hübsche Geschichte.
Thurston Clarke: Die Insel
Mit der Bounty ging es um viele Inseln. Jetzt geht es um ALLE Inseln. Das Buch ist wieder aus dem mare-Verlag und kann also schon mal gar nicht schlecht sein. „Die Insel“ ist ein Sachbuch. Aber auch nicht so richtig. Schließlich ist es ein amerikanisches Buch. Clarke will unterhalten. Hierzu stellt er uns in 13 Geschichten verschiedene Inseln vor.
Natürlich ist die Insel aller Inseln dabei – nein, nicht die
„Insel mit zwei Bergen und dem tiefen weiten Meer
Mit viel Tunnels und Gleisen und dem Eisenbahnverkehr
Nun, wie mag die Insel heißen, ringsherum ist schöner Strand
Jeder sollte einmal reisen in das schöne Lummerland“
Diese Insel fehlt leider in dem Buch. Aber die Insel von Robinson Crusoe wird natürlich vorgestellt. Und Clarke entdeckt natürlich auch den Robinson in jedem von uns, den kleinen Mann (die kleine Frau) der König (die Königin) eines kleinen Reichs sein möchte, der die Überschaubarkeit eines Inselreichs sucht, der sich nach der Ruhe der Insel sehnt, um in sich hineinzuhören …
Clarke ist eben Amerikaner und als solcher flieht er der Couch des Psychoanalytikers nur um mal eben ein Buch über Inseln zu schreiben. Aber das macht er ganz gut.
„Die Insel. Eine Welt für sich“ und ein Buch nicht nur für Inselromantiker, sondern auch für Menschen, die gerade Corona-bedingt nicht reisen können, es im Kopf aber gerne tun, ein Buch für Kopfreisende. Und wieder ein Buch, das nach Salz und ein klein wenig nach Fisch stinkt. Ein mare-Buch eben.
Umberto Eco: Die Insel des vorigen Tages
Eben habe ich hier das Buch „Die Insel“ vorgestellt. Es ist also nur folgerichtig, wenn die nun folgende Empfehlung einem Buch gilt, das den Titel trägt „Die Insel des vorigen Tages“. Sehr naheliegend. Irgendwie. Ähäm.
Es geht um Umberto Ecos Roman über die Suche nach der Datumsgrenze. Ecos Romane sind ja immer bürgerliche Bildungsromane, Aufklärungsbücher und Bücher der Aufklärung. Man lernt viel und wird zugleich bestens unterhalten.
Bücher von Umberto Eco sind zwischen zwei Buchdeckel gedrucktes ARTE.
In der „Insel des vorigen Tages“ geht es erstmal in einem Segelschiff im Sommer 1643 um die halbe Welt, über den Atlantik, um Kap Hoorn mitten in die Südsee. Es stinkt ordentlich nach Salz und Fisch.
Ein Wissenschaftler an Bord versucht mittels dubioser Experimente einen Weg zu finden das Geheimnis der Bestimmung der Längengrade zu erforschen. Dabei kommt er mit der ganzen Besatzung zu Tode. Einzig ein junger Held und ein alter Jesuitenpater überleben als Schiffbrüchige in der Nähe einer Insel, direkt an der Datumsgrenze. Die Insel liegt auf deren anderen Seite, ist also die „Insel des vorigen Tages“. Der Held schreibt das Geheimnis von der Erforschung der Längengrade gewissenhaft auf. Er ist ja der Held. An Schreibzeug fehlt es den Helden bei Eco auch in ihrer größten Not nie.
Zu guter Letzt gehen auch Held und Jesuit zu Grunde und es überlebt nur in alter Eco-Tradition das geschriebene Wort.
„Die Insel des vorigen Tages“ ist ein überaus geiles Buch von barocker Pracht und Opulenz, voller Wissen und tiefer Erkenntnis. Man erfährt viel über seemännische Navigation und Gefahren und Fauna und Flora der Südsee. Auch ist das Buch voller literarischer Anspielungen. Man merkt auf Schritt und Seite, dass es ein Literaturwissenschaftler, eine See- und Leseratte geschrieben hat.
Wem der „Name der Rose“ zu düster war, der findet hier eine lichtdurchflutete Alternative und ein Reisebuch in reisearmer Zeit.
Veit Heinichen: Triest. Stadt der Wind
Das ist ein Reisebuch und Stadtführer. Das ist ein Buch für alle Liebhaberinnen und Lieberhaber dieser wunderschönen Stadt am Meer. Triest ist nicht so touristisch überlaufen wie Venedig. Man kann es auch dann besuchen, wenn es keine Reisebeschränkungen gibt. Es gibt die besseren Restaurants, die besseren Konditoreien, die besseren Vinotheken, die besseren Cafés und vor allem auch die besseren Morde.
Für Letztere ist Commissario Proteo Laurenti zuständig, das Alter Ego von Veit Heinichen.
Heinichen ist Deutscher, lebt aber seit vielen Jahren in Triest. Und dort schreibt er Kriminalromane. Und ich liebe es, bevor ich in eine fremde Stadt reise, diese Stadt in Büchern kennen zulernen. Der Commissario führt den Leser in die besten Süßigkeiten-Bäckereien der Stadt ein, zeigt uns Restaurants, in denen Einheimische essen und Hafenarbeiter sich besaufen. Es ist einfach wunderbar auf seinen Spuren die Stadt zu erobern. „Triest. Stadt der Winde“ ist das Sachbuch zu den Kriminalromanen für alle, die partout keine Morde mögen.
Wer nach Triest kommt sollte im Savoia absteigen, im alten Grand Hotel am alten Hafen. Er sollte das Museo del Mare Trieste besuchen, in dem er alles über die österreichische Marine erfährt, auch, dass einst ein Österreicher die Schiffsschraube erfunden hat. Czyslansky-Kenner wissen das natürlich längst.
Er sollte auf den Spuren von James Joyce wandeln, der in der Stadt große Teile des Ulysses geschrieben hat und er sollte vor allen Dingen sämtliche Konditoreien der Stadt überfallen. In keiner Stadt der Welt habe ich bessere süße Schweinereien gekostet, als in Triest. Auch nicht in irgendwelchen türkischen oder arabischen Städten. Ehrenwort. Die k.u.k.-Vergangenheit von Triest hat nicht nur in den Krimis von Heinichen, sondern auch auf meinen Hüften nachhaltige wunderbare Spuren hinterlassen.
Theodor Storm: In St. Jürgen. Eine Halligfahrt. Draußen im Heidedorf
Eine meiner Kolleginnen lebt ja auf Sylt. Immer wieder erzählt sie mir, dass sie tagelang dichten Nebel auf der Insel hätte. Da kommt dann immer tiefer Neid in mir hoch. Dichte Nebelschwaden, fröstelnde Kälte, heulende Sturmböen, in der Ferne ein Nebelhorn und dann heiße sämige Erbensuppe in der Kombüse und ein schöner Rum in der Kajüte. Und in der Koje irgendwas von Theodor Storm.
Seit dem Schimmelreiter, den ich noch als gelbes Reclam-Heftchen in der Schule lesen durfte, mag ich den großen Klaren aus dem Norden. Unvergessen auch „Pole Poppenspäler“, ebenfalls Schullektüre. Ich erinnere den Poppenspäler aber auch in der Verfilmung mit dem hervorragenden Walter Richter in der Hauptrolle. Ihr kennt den Mann sicherlich als Hauptkommissar Trimmel aus alten Tatort-Folgen.
Dieser kleiner Band, den ich heute aus dem Regal gezogen habe, beinhaltet drei Novellen: „In St. Jürgen“, „Eine Halligfahrt“ und das ein wenig gespenstische „Draußen im Heidedorf“.
Besonders hat es mir die „Halligfahrt“ angetan, eine auf den ersten Blick hübsch betrüblich-tragische Romanze, in der zwei Liebende nicht zueinander kommen können. Auf den zweiten Blick aber gibt es eine Menge Sozialkritik und auch noch heftige Kritik an Bürokratismus und staatlicher Bevormundung. Alles in allem ruft da ein liberaler Storm laut und flehend um Hilfe, ohne allerdings den politischen Ausweg zu finden und ohne so recht die Konsequenzen zu formulieren.
Ich schätze an Storm seine – sagen wir – „Bodenhaftung“, seine Nähe zu den Volkssagen und auch zu den „einfachen Leuten“ des 19. Jahrhunderts. Was Thomas Mann dem Bürgertum, das ist Theodor Storm dem einfachen Volk vom Land zwischen den Meeren. Und einmal mehr: seine Novellen riechen eindrucksvoll nach Salz und nach Fisch.