Literarisches Quintett VIII: (Keine) Jugendbücher: Benjamin – Kafka – Meckel – Tolkien – Watzlawick

Literarisches Quintett

Vor zwei Jahren stellte ich auf Facebook und auf Instagram über einen Zeitraum von 100 Tagen täglich ein Buch aus meiner kleinen Bibliothek vor. Dabei suchte ich mir die Werke nach Lust, Laune und Zufall heraus. Die einzige Regel lautete: kein Autor durfte zwei Mal vorkommen. Es handelte sich selten um klassische Rezensionen, eher um Erinnerungen und Gedankenfetzen, die mir kamen, als ich die Bücher – häufig nach vielen Jahren des zwischenzeitlichen Vergessens – wieder aus dem inzwischen tief verstaubtem Regal zog. Facebook und Instagram sind vergänglich und so haben mich Freunde schon damals gebeten meine kleinen Notizen hier auf dem Blog zusammenzutragen. Und so erscheint nach langer Pause heute die achte Folge meines kleinen Literarischen Quintetts, dieses Mal mit Büchern, die ich erstmals in meiner Jugend gelesen hatte, oder die in irgendeiner kruden Weise mit meiner Jugend in Zusammenhang stehen. Es handelt sich also gewissermaßen um (meine) Jugendliteratur.

Walter Benjamin: Berliner Kindheit um Neunzehnhundert

Walter BenjaminWalter Benjamin, Theodor Adorno und Leo Löwenthal bestimmten mein Studium und bildeten schließlich den Gegenstand meiner Dissertation, die 1986 zur Veröffentlichung von „Kulturindustrie und Populärkultur“ im Fischer-Verlag führte. Ich darf behaupten, dass ich die Veröffentlichungen und manch unveröffentlichtes Werk der drei damals komplett gelesen und teilweise wohl auch verstanden habe.

Auch wenn ich mit Leo Löwenthal noch kurz vor seinem Tod die Ehre und das Vergnügen hatte einen persönlichen Kontakt zu pflegen – er schrieb sogar das Vorwort zu meinem bei Fischer erschienenen Buch -, so hat mich doch von diesen Dreien Walter Benjamin sicherlich am stärksten beeinflusst.

Die „Berliner Kindheit“ erstand ich schon 1981 und der kleine Aufsatz über den Tiergarten wurde zur Richtschnur für meine Art und Weise mir fremde Städte zu erkunden. In ihm schreibt Benjamin:

„Sich in einer Stadt nicht zurechtfinden heißt nicht viel. In einer Stadt sich aber zu verirren, wie man in einem Walde sich verirrt, braucht Schulung. Da müssen Straßennamen zu dem Irrenden so sprechen wie das Knacken trockener Reiser und kleine Straßen im Stadtinnern ihm die Tageszeiten so deutlich wie einer Bergmulde widerspiegeln.“

So lerne ich auch heute noch fremde Städte am liebsten kennen, indem ich los laufe und mich ihr herumirrend ausliefere. Wie gerne würde ich mich in diesen irren Corona-Zeiten wieder einmal in einer fremden Stadt verlieren. Vielleicht in Lissabon. Oder gar in Timbuktu.

Franz Kafka: „Amerika“

Franz KafkaKafka war mein selbst gewähltes Abitur-Thema. Von ihm habe ich also schon als Schüler alles gelesen, was es so zu lesen gab. Den Prozess, das Schloss und alles damals noch mit „ß“. Nur Amerika war ohne. Aber Amerika gilt ja auch als unvollendet. Ähäm.

Kafka selbst hält Amerika für ein hoffnungsfrohes Buch. So schreibt er jedenfalls einmal an Max Brodt. Das bedeutet aber nur, dass der Protagonist des Romans nicht schon auf den ersten Seiten an Selbstmord denkt.

Karl Roßmann (damals und heute mit „ß“) wird zu einer Vergewaltigung verführt – sowas kann man heute wohl auch nicht mehr schreiben – und muss nach Amerika auswandern. Dort erfährt er die Ungerechtigkeiten, die Entfremdung und Gefühlskälte des Kapitalismus und landet schließlich unter Landstreichern.
Die Sache findet kein Ende, weder ein schlechtes, noch ein ganz schlechtes, eine andere Option hätte es bei Kafka ohnehin nicht gegeben.

Kafka selbst hatte angeordnet dieses Fragment nach seinem Tod zu vernichten. Er hielt nicht viel von seinem Frühwerk. Vermutlich war es ihm einfach zu „konkret“. Die Motive, die hoffnungslose Verstricktheit seines Protagonisten in die Widersprüche des Lebens deuten schon seine späteren großen Werke an. Der Fabrik in Amerika fehlt noch das Dämonische des Prozesssaals und des Schlosses. Für Kafka-Novizen ist Amerika ein lehrreiches Vorwort, die leichte Vorspeise zu einem teuflischen Mahl. Ich vergöttere Franz Kafka. Seit meiner Schulzeit.

Christoph Meckel: „Suchbild Meine Mutter“

MeckelDie Werke Christoph Meckels haben mich seit meiner Jugend begleitet. Dies gilt sowohl für seine Lyrik, als auch für seine Prosa.

Für die #tagesbuch-Reihe hatte ich das „Suchbild Meine Mutter“ ausgewählt, ein Buch, das 2002 erschienen ist. Geschrieben hat er es schon Jahre vorher, noch zu ihren Lebzeiten, veröffentlicht aber erst nach ihrem Tod, aus gutem Grund. Denn es ist eine kalte Abrechnung.

„Ich habe meine Mutter nicht geliebt“ lautet der entscheidende Satz. Meckel seziert seine Mutter als Nicht-Liebende und Unnahbare. Er beschreibt sie als hochmütige und herrschsüchtige Frau aus bildungsbürgerlichem Haus, konservativ bis in die steifen Knochen. Meckel analysiert scharf und unerbittlich, wie es seine Art ist. Eben dies hat mich immer an ihm gereizt. Er war ein kühler klarer Kopf.

Ich denke, dass viele Menschen meiner Generation Eltern erlebt haben, die zur Liebe nicht sonderlich befähigt waren. Unsere Eltern haben zu lieben als junge Menschen im Krieg verlernt. Was sie als Kinder und Jugendliche an Liebesfähigkeit erlernt hatten, galt dem Führer und erwies sich später als schlimmer Betrug. Wenn Liebe so enttäuscht wird, wie ihre Liebe zu Führer und Vaterland enttäuscht worden war, wie sollte da sich noch einmal ein Raum für Liebe auftun?

Meckels Suchbild ist ein Buch, das Erfahrungen weiterreicht, Erfahrungen, die für die Nachkriegsgeneration in Deutschland wichtig waren und sind.

Nicht verschweigen will ich, dass die meisten Kritiker das „Suchbild Mutter“ verrissen haben. Es war ihnen zu eindimensional, ganz im Gegensatz zum älteren „Suchbild. Über meinen Vater“. Meiner Meinung nach verkennen sie, dass Meckel in jenem Buch seine Position zu seinem Vater in der Tat noch suchte und bis zuletzt als widersprüchlich fand. Sein „Mutter-Buch“ ist eine klare Abrechnung. Es ist keine Instandsetzung einer Beziehung, sondern eine Auseinandersetzung. Mir scheint dies legitim. Er hat mir in vielen Dingen mit diesem Buch aus der Seele gesprochen …

John Ronald Reuel Tolkien: „Der Herr der Ringe“

JRR TolkienJetzt kommt der Kracher. Als ich im Juni 1980 – ich erinnere mich sehr genau – am Butt von Günter Grass gescheitert bin, habe ich angefangen den Herrn der Ringe von Tolkien zu lesen. Ihr seht auch am Foto, dass ich noch die alte Übersetzung von Margaret Carroux besitze. Die ist um Ellen besser, als die vulgäre von Wolfgang Krege aus dem Jahr 2000, bei der aus einem „Herr“ plötzlich ein „Chef“ wird. Das Auenland ist doch nicht Dallas …

Aber nein, ich bin gar kein Fantasy-Freund. Ich habe nie ein anderes Fantasy-Buch gelesen. Und 1980 war Tolkien auch bei weitem noch nicht so verbreitet wie heute. Den Film gab es ja auch noch nicht. Und ich weiß gar nicht, wie ich nach Mittelerde kam. Ich weiß nur, dass ich viele Jahre später mit meinem Sohn ins Kino ging um mir den erste Teil der Trilogie anzusehen. Und ich war doch arg enttäuscht, weil Tom Bombadil gar nicht vorkam, sondern ständig nur gerauft wurde.

„Dong – long! Dongelong! Läute laute lillo!
Wenn – wann, Weidenmann! Bimmel bammel billo!
Tom Bom! Toller Tom! Tom Bombadillo!“

Ohne diese Verse Bombadils kann man doch den Sinn der ganzen Geschichte gar nicht wirklich transzendieren …

Und dann die Ents, denen die Entfrauen abhanden gekommen waren, die mich immer wieder an Nazim Himets „Davet“ erinnerten.
Ihr merkt man schon: Man kann, ja man MUSS Tolkien als Freund des guten Buches einfach lesen. Kein Grund zur falschen Scham!

Paul Watzlawick: „Gebrauchsanweisung für Amerika“

Paul WatzlawickUnd noch einmal Amerika: Man muss unbedingt mal wieder lesen: Pauls Gebrauchsanweisung für Amerika. Ob man damit Wahlen verstehen kann? Ich weiß es nicht. Aber den Alltag, den kann man besser verstehen. Und ein Lesevergnügen bereitet es allemal.

Ich habe mich mit diesem Buch in den 80iger Jahren auf meinen ersten Besuch der USA vorbereitet. Es war mir ein wertvoller Kultur- und Reiseführer. Watzlawick erklärt uns darin die Sitten Amerikas in den Restaurants, beim Einkauf, in der Familie, beim Schreiben, beim Zählen und beim Zahlen.

Er erklärt uns aber auch den unbedingten Glauben des Amerikaners an das Gute, Schöne und Wahre und an seine Fähigkeit des perfekten Ausblendens. Und so habe ich jetzt beim Wiederentdecken diese wunderbare und erhellende Sequenz in diesem Buch gefunden, die aktueller denn je erscheint:

„Die Verkörperung dieser glücksschuldenden Instanz ist natürlich der Präsident, dem besonders bei seiner Wahl in der rührendsten Weise die idealsten väterlichen Eigenschaften zugeschrieben werden. Dass Nixon, zum Beispiel, log, dass Kennedy – wie man schon zu seinen Lebzeiten munkelte – dem schön Geschlecht sehr zugetan war, und Dutzende solcher großer und kleiner Skandale würden uns zynische Europäer kaum aus der Fassung bringen. Wir halten derlei jederzeit für möglich, sehen in diesen Entgleisungen bestenfalls ein Symptom der allzu menschlichen Natur unserer Demokratien und in der früher oder später (meist später) eintretenden Bereinigung dieser Skandale doch wenigstens den tröstlichen Beweis für die Regenerationsfähigkeit unserer Gesellschaft. Nicht so der Amerikaner. Die Entdeckung der moralischen Hinfälligkeit oder auch nur der menschlichen Schwächen des superväterlichen Präsidenten ist für ihn anscheinend ebenso traumatisch wie … das Trauma des Kindes, das seinen Vater beim Geschlechtsverkehr mit der Mutter überrascht.“

Merke: Der Amerikaner MUSS die Lügen Trumps verdrängen. Er kann gar nicht anders. Vielleicht sollte er endlich runter von der Couch …

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