Das Internet hat die Welt verändert, aber Apps verändern das Internet. Mehr als die Hälfte aller Internet-User geht heute mit Hilfe eines Smartphones oder eines Tablets online, und sie benutzen dazu Apps, also kleine Mini-Programme, die nur für einen ganz bestimmten Zweck geschaffen worden sind, beispielsweise ein Flugticket zu buchen, ein Spiel zu spielen oder sich ins Social Web einzuloggen.
Aus dem offenen, kreuz und quer verlinkten World Wide Web, das sich sein Erfinder Tim Berners-Lee als ein „semantisches“ Netzwerk vorgestellt hat, also eines, das sich jedem erschließt und Kontext schafft, ist längst eine Ansammlung kontrollierter Biotope geworden. Wenn das Web ein Dschungel ist, dann sind Apps kleine, spießige Schrebergärten mit hohen Zäunen drum herum, damit ja keiner von außen reinschauen kann. Das entspricht ganz den Interessen der Anbieter, die sich schon immer daran gestört haben, dass Kunden im Internet ganz schnell weg sind, wenn ihnen irgendwas nicht passt. Ein App-User ist ein Gefangener, und die App ist seine Einzelzelle.
Insofern ist die „App Economy“, wie sie der Offenbacher Prof. Wolfgang Henseler beschreibt, kulturell und gesellschaftlich ein klarer Rückschritt. Gerade erst haben wir gelernt, dass im Internet die traditionellen Rollen verschwimmen, dass jemand gleichzeitig Leser, Schreiber und Verleger, Zuschauer und Produzent, Kunde und Anbieter sein kann. Aber in der App-Welt sind die Rollen wieder klar verteilt: Auf der einen Seite die Anbieter, auf der anderen die User, die nur genauso viel machen können, wie es ihnen der App-Entwickler und sein Auftraggeber erlauben wollen.
Auf der anderen Seite sind Apps sehr praktisch, weil ich mit einem mobilen Endgerät ohnehin nur einen relativ kleinen Bildschirm habe und die Dateneingabe erschwert ist, wie jeder weiß, der je über die Bildschirmtastatur seines iPad geflucht hat, die oft ein ausgeprägtes Eigenleben entwickelt. Ich verbringe jedenfalls die Hälfte meiner Zeit beim Tippen mit dem Korrigieren dessen, was Apple aus meinem Text gemacht hat. Und das nennt sich Fortschritt?
Die App-Welt ist eine geschlossene Welt, widerspricht also diametral der Idee eines „offenen“ Internet. Das bekommen vor allem die Suchmaschinenbetreiber inzwischen massiv zu spüren. Google, das mit dem hohen Ziel angetreten ist, das ganze Wissen der Welt durchsuch- und auffindbar zu machen, steht heute mit seinen Softwarerrobotern, den so genannten „Crawlern“, vor verschlossenen Türen: Alles, was sich abgeschottet hinter den Mauern der Apps abspielt, ist für sie nicht ersichtlich.
Nehmen wir an, Sie wollen ein Hotelzimmer buchen. Sie fragen Google und bekommen viele Antworten – aber längst nicht alle. Was sich auf einer App-Plattform wie HotelTonight abspielt, weiß Google nicht. Gehen Sie aber mit Ihrem Smartphone auf HotelTonight und werden fündig, können Sie Ihrer Frau oder Freundin keinen Link schicken, damit sie sich die Herberge vorher anschauen kann, weil Sie nicht aus der App raus können – Sie sind gefangen!
Angefangen hat Apple damit, als sie 2008 den iTunes-Store schufen und damit den ersten „walled garden“, in dem nur rein konnte, wer sich angemeldet und seine Bezahldaten hinterlegt hatte. Es gibt keine andere Hitech-Firma, die eine solche Kultur des Abschottens und Ausschließens betreibt wie Apple, dafür sind sie ja berühmt. Die Zeitschrift Wired schrieb über Apple einmal: „Manchmal grenzt die Geheimniskrämerei bei Apple an Paranoia“. Apple ist die sprichwörtliche geschlossene Gesellschaft und damit einerseits ein Unikum im Silicon Valley, wo Offenheit als eine Grundtugend des Internetzeitalters gefeiert wird, andererseits sind sie die Vorreiter einer Bewegung, die – wenn sie nicht gestoppt wird – das Internet in eine Zeit zurückwerfen könnte, die Roger McNamee,den Mitbegründer von Elevation Partners, einer Investmentfirma in Menlo Park, laut New York Times „ans Jahr 1997“ erinnert.
Kein Zweifel, dass das Internet dank des ausufernden App-Unwesens einen deutlichen Schritt zurück gemacht. Aber es gibt zum Glück Hoffnung, dass sich das ändern könnte. In den New York Times schreibt Conor Dougherty, dass sich eine Bewegung gebildet hat, die eine Brücke bauen wollen zwischen Apps und dem Internet. Das Geheimnis heißt seiner Meinung nach „deep linking“.
In der Internetsprache bedeutet „deep link“ nichts anderes als ein Hyperlink, der auf eine andere Seite als die Homepage einer Website verweist. Suchmaschinen schicken uns normalerweise direkt zu der gewünschten Information, die aber unter Umständen tief unten in der Hierarchie einer komplexen Website zu finden ist, denn es wäre Unsinn, uns sozusagen an der Eingangstür abzuliefern und zu sagen: „Jetzt sieh mal zu, wie du weiterkommst.“
Der Trick besteht darin, Apps sozusagen mit URLs nachzurüsten, jene „Uniform Resource Locators“, mit denen ein Webbrowser einerseits die zu verwendende Zugriffsmethode (wie http oder FTP) und den Speicherort der Information erkennen kann. Apps kennen eigentlich keine URLs, und die Aufgabe ist ungefähr so kompliziert, als würde man in einem fertigen Haus nachträglich Wasserrohre einziehen wollen. Aber das schreckt Riesenfirmen wie Google oder Twitter ebenso wenig ab wie kleine Startups wie URX, Quixey oder Branch Metrics. Allerdings aus ganz unterschiedlichen Gründen: Während die Großen verhindern wollen, dass ihnen die Felle davonschwimmen, sind die Kleinen darauf aus, der etablierten Konkurrenz das Fürchten zu lehren.
Google möchte das Problem mit einer Technologie namens „App Indexing“ lösen. Mit dem Release 4.4 („KitKat“) seines Android-Betriebssystems für Smartphones geben die Such-Weltmeister App-Programmierern die Möglichkeit, so genannte „Android Intent Filters“ in ihre Apps einzubauen, die es dem Google Crawler erlaubt, auf die Linkstruktur der App zuzugreifen. Google wirbt damit, dass App Indexing Firmen hilft, ihre Apps populärer zu machen, weil die Menschen aus dem Web heraus direkt in die App wechseln können. Das ist natürlich auch gut für Google, den damit weiten sie ihren Markt für bezahlte Suchwerbung in die App-Welt aus, die ihnen bislang verschlossen war.
Twitter geht einen anderen Weg. Mit so genannten „App Cards“ können Programmierer aus einer App heraus auf Inhalte in Tweets zugreifen und sich damit endgültig vom selbstgeschneiderten Korsett des 140 Zeichen-Limits befreien. Programmierer müssen dazu aber manuell so genannte „meta tags“ in den HTML-Code ihrer Websites hinzufügen, können aber dann sicher sein, dass Follower, die eine Karte an ihre Tweets gehängt haben, auf entsprechende Websites weitergeleitet werden, was Marktanteile im Social Web und natürlich auch die Markenbekanntheit steigern soll.
Facebook hat sich auch etwas einfallen lassen, wobei man sehr zum Erstaunen der Branche auf offene Standards setzt (das von einem Unternehmen, das bislang sorgsam für die Abtrennung vom „Rest des Internet“ gesorgt hat). Im vergangenen April stellte man auf der F8 in Las Vegas ein System namens „Applinks“ vor, das von einem offenen Konsortium entwickelt wird, um entsprechende Web-URL an die App weiterzuleiten, so dass sie direkt sich aus der FB-App heraus öffnen lässt
Es ist ja lobenswert, dass sich die Industrie des Problems annimmt, aber wenn jeder darauf besteht, seinen eigenen Weg zu gehen, dann wird es noch Jahre dauern, bis wirklich etwas passiert. Das ist so, als würde man drei verschiedene Rohrdurchmesser verwenden, wenn man das Haus nachrüstet.
Die dänische Firma Famo schlägt das eine radikale Lösung vor: Schafft die Apps ab und baut statt dessen Websites, die sich wie Apps schnell und einfach auf das mobile Endgerät herunterladen lassen. Sie arbeitet mit einem Mix aus HTML, JavaScript und CSS, um „interaktive Crossplattform-Apps“ zu bauen. Sie nennen das „Mixed Mode“, und Marketingchefin Jeanne Feldkamp glaubt, dass sei „die Zukunft des Web“.
Bleibt abzuwarten, wie die Zukunft wirklich aussehen wird. Allerdings ist klar, dass der Widerstand der App-Industrie stark sein wird. „Die erfolgreichsten Apps sind deshalb so erfolgreich, weil sie Dinge tun, die du im Web nicht kannst“, behauptet zum Beispiel Sam Shank, CEO von HotelTonight. Seine App bietet eine Liste von Hotels an, deren Preise sich ständig entsprechend Angebot und Nachfrage verändern. „Die Hotels finden es gut, dass wir ihren eigenen Websites keine Konkurrenz machen“, sagt Shank.
Dazu kommen ganz praktische Probleme. Wie, zum Beispiel, soll man eine Website aktuell halten, wenn sich in der App dauern etwas verändert? Und was macht Google? Alle paar Sekunden einen Crawler vorbeischicken? Wohl kaum…
Irgendwas muss aber geschehen, denn das Besondere am Web ist ja gerade, dass ich per Mausklick von Ort zu Ort springen kann, mir das Video einer Band anschauen, Tickets für das nächste Konzert kaufen und mir auf der Navigationsseite sagen lassen kann, wie ich in die Konzerthalle komme – alles aus einer einzigen Anwendung – dem Webbrowser – heraus. Deshalb: Macht die Apps auf! Das Internet wird sonst immer mehr zu einer geschlossenen Gesellschaft.