Gentleman über Bord von Herbert Clyde Lewis
Buchempfehlung: „Gentleman über Bord“ von Herbert Clyde Lewis „Als Henry Preston Standish kopfüber in den Pazifischen Ozean fiel, ging am östlichen Horizont gerade die Sonne
An Franz Beckenbauer habe ich zwei intensive Erinnerungen. Einmal, das muss so um das Jahr 1990 herum gewesen sein, war er zu meiner großen Überraschung plötzlich mein ganz persönlicher Gast auf der CeBIT in Hannover. Wir verbrachten eine knappe Stunde zusammen in einem kleinen Meeting-Raum auf dem Microsoft-Stand und tranken jeder zwei (?) Flaschen Bier zusammen und plauderten über – na was wohl? – Fußball. Diese seltsam-schräge Begegnung verdanke ich einer lieben Kollegin von NEC, mit der ich damals regelmäßig im Rahmen einer Marketing-Kooperation zusammenarbeitete. Ich war in jenen jungen Jahren PR- und Marcom-Chef der Software-Bude aus Redmond und in dieser Funktion in jenem Jahr auch Messe-Verantwortlicher und Standleiter für Microsoft auf der CeBIT.
Nun tauchte eines schönes Messetags plötzlich diese nette Marketingleiterin von NEC bei uns auf und kündigte mit dürren Worten an: „Ich bring Dir in zehn Minuten den Franz Beckenbauer vorbei und hole ihn eine Stunde später wieder ab. Mach mit ihm was du willst. Wir haben ihn für einen Tag eingekauft.“
Ich war nun aber überhaupt nicht auf diesen Besuch vorbereitet. Ich hatte keinen Fotografen vor Ort, keinen Gesprächspartner für ihn und eigentlich auch überhaupt keine Zeit. Und der Microsoft-Stand sah damals auch noch nicht so aus wie heute die Messe-Stände des Software-Riesen aussehen. Wir hatten zwei oder vielleicht auch vier kleine Besprechungskabinen. Ich konnte gerade mal meine Termine und einen Raum „order per mufti“ freiräumen. Mehr ging nicht. Als also ein sichtlich gelangweilter Franz Beckenbauer von einem kleinen NEC-Tross bei mir angeliefert wurde – „Grüß Gott“ – hab ich ihn erstmal gefragt, ob ihn die ganze Computerei eigentlich irgendwie interessiere. Ich könne ihm natürlich ein paar Programme zeigen. Aber wenn er, was ich eigentlich vermute, lieber in Ruhe ein Bier trinken würde, könnten wir uns auch in eine zwar unaufgeräumte und kleine und stickige Kammer zurückziehen und zwei Flaschen Bier aufmachen. Ich versprach „keine Kameras und keine Mikrofone“. Ich sei aber Franke und deshalb von Geburt an „Glubberer“ und kein Bayern-Fan. Mein Vater habe noch gegen Max Morlock gespielt aber wir würden die Stunde schon miteinander aushalten. „Des klingt vernünftig“ war die Reaktion des Kaisers, verbunden mit einem ebenso überraschten wie verschmitztem Lächeln.
Und so verbrachte ich eine knappe und angenehme Stunde in einem Meeting-Raum auf dem Messe-Stand von Microsoft auf der CeBIT mit dem Kaiser bei Bier und Messe-Keksen und Geplauder über Mexico 1970 – das Italien-Spiel – , England 1966 – er war nicht drin –, Max Morlock und, ja ok, den FCB. Und ich bin mir ziemlich sicher: die Stunde bei Microsoft war für den Kaiser die angenehmste Stunde auf der CeBIT.
Bei meiner zweiten Erinnerung an den Kaiser war dieser nur virtuell anwesend. Das war im Jahr 2010 als ich meinen Sohn in Lettland besuchte, und zwar nicht in Riga, sondern tief im Osten, wo die Sonne nicht scheint, genauer: in Rezekne, nahe der weißrussischen Grenze. Rezekne liegt kurz hinter der Erdkrümmung und ist ein verdammt verarmtes Nest. In der Stadt leben knapp 27.000 Einwohner, mehrheitlich Russen. Die meisten von ihnen wurden während der Sowjetzeit angesiedelt um hier in einer großen Papierfabrik zu arbeiten, die aber zu jener Zeit schon lange nicht mehr existierte und gerade recht romantisch verfiel.
Die meisten dieser Russen waren 2010 arbeits- und staatenlos. Sie sprachen kein lettisch und erhielten deshalb auch die lettische Staatsbürgerschaft nicht. Sie hatten aber auch keinen russischen Pass. Für Putin sind die vielen staatenlosen Russen in den baltischen Staaten ein wunderbares Argument Druck auf diese auszuüben. Wären die baltischen Länder heute nicht Mitglied der NATO, so stünden an ihrer Grenze oder gar in ihren Hauptstädten heute vermutlich bereits russische Truppen um ihre Staatsbürger zu „befreien“ – nach ukrainischem Vorbild. Leider aber muss man sagen, dass das Problem nicht nur in der russischen Aggression besteht, sondern auch in der kaum ausgeprägten Integrationsbereitschaft der baltischen Staaten, die sich natürlich aus der historischen Erfahrung aus Sowjetzeiten erklären lässt. Was das alles mit Beckenbauer zu tun hat? Gemach, dazu komme ich jetzt:
Eines abends spazierten wir, meine Tochter, mein Sohn, meine Frau und ich durch einen von Russen bewohnten Vorort von Rezekne. Die Gegend sah ein wenig aus wie Gegenden eben aussehen, in denen Schimanski die Soße seiner Curry-Wurst verschüttet, Hauptkommissar Faber einen Mörder sucht oder Familie Kausch abends spazieren geht.
Wir bemerkten, dass einige offenbar russische Jugendliche uns folgten. Plötzlich hörten wir deutliche „Heil Hitler“-Rufe aus der Gruppe. Die Rufe galten uns. Die Rufe wurden immer lauter und die Gruppe kam immer näher. Man konnte sie nicht ignorieren. Ich drehte mich also um. Einer der Jugendlichen rief erneut „Heil Hitler“ und meinte fragend mit bedrohlich klingender Stimme und zum Hitler-Gruß erhobenem rechtem Arm „Berlin?“.
Wir waren als Deutsche offenbar erkannt. Ob es sich nun um Hitler-Fans oder um eine Art russische Antifa handelte: keine Ahnung. In jedem Fall erschien die Situation ein wenig ungut. Weder mochte ich mich mit Hitler-Fans anfreunden, noch würde es mir gelingen meine antifaschistische Grundhaltung einer Gruppe russischer Jugendlicher mit wohlklingenden Worten überzeugend darzulegen. Ich antwortete mit recht einfachen Worten und ohne groß nachzudenken: „Nix Berlin – München! Nix Hitler – Beckenbauer!“
Die Reaktion war ebenso überraschend, wie erfreulich: „Aaahhh!! Beckenbauer gutt!“ Daumen hoch. Give me five. Und wir konnten eine große nach Wodka riechende Verbrüderungsgeste gerade noch abwehren, aber die Stimmung kippte ins freundliche und wir gingen friedlich auseinander. Kaiser statt Führer!
Was hier so lustig klingt hat natürlich einen großen symbolischen Hintergrund: diese kleine Szene im abendlichen Lettland verdeutlicht sehr lebhaft, dass es kein leeres Gerede ist, wenn von Franz Beckenbauer als Botschafter des neuen Deutschlands die Rede ist. Diese russischen Jugendlichen kannten vermutlich genau zwei Deutsche: Adolf Hitler und Franz Beckenbauer. Und ohne groß darüber nachzudenken hatte ich in der Kommunikation mit ihnen spontan genau diesen richtigen Ton getroffen. Franz Beckenbauer war der Botschafter des guten Deutschlands in der Welt. Auf ihn können sich alle verständigen.
Und dass das so ist – und jetzt kommt der Bogen zu meiner ersten Erinnerung mit ihm – hat nicht nur mit seinen überragenden Ballkünsten zu tun, sondern auch mit seiner Menschlichkeit. Wirklich große Fußballer – neben Beckenbauer nenne ich hier Pelé – waren immer auch großartige „Typen“. In jedem Zeitungsartikel kann man das lesen. Und ich glaube ja noch an Zeitungen. Und manchmal, mit etwas Glück, kann man das auch in einer glücklichen Stunde in einer Besprechungskammer auf einem CeBIT-Stand live erleben.
Danke Franz.
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Illustrationen © Michael Kausch. Das Titelbild wurde erstellt mit KI-Unterstützung by Adobe Firefly am 12.01.2024
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“Wien hat lauter Wahrzeichen und jeder Wiener fühlt sich als solches” soll Karl Kraus einmal gesagt haben. Und wirklich ist Wien, eine Stadt mit gerade mal knapp zwei Millionen Einwohnern, voll gestellt mit Sehenswürdigkeiten. Die Entwicklung dieser Stadt ist völlig untypisch: Schon im jahr 1920 hatte Wien mehr als zwei Millionen Einwohner. Danach ist Wien verzwergt. Damals war Wien eine turbulente Metropole, Hautpstadt einer Großmacht. Und das sieht man dieser Stadt heute noch an allen Ecken und Enden an. Hier ist alles ein wenig zu groß geraten: die Straßen, die Theater, die Bürgerhäuser, die Museen, das Selbstbewusstsein ihrer Einwohner. Selbst das Rad ist ein RIESENrad.
Das N-Wort verfolgt uns überall: in den Büchern unserer Jugend – jedenfalls wenn wir ein wenig älter sind – in Filmen, in den Debatten der aktuellen Medien. Die meisten bemühen sich um eine korrekte Sprache und selbst jene, die es nicht tun, sind in meinen Augen oftmals eher weiße Opfer des jahrhundertealten Alltagsrassismus in unserer Gesellschaft, denn bewusste Rassisten. In ihnen nagt der Rassismus, aber sie sind weit davon entfernt sich in eine rassistische Ausbeutergesellschaft zurück zu wünschen. Sie bemerken vielleicht nicht, dass es noch immer rassistische Elemente in unserer Gesellschaft gibt, wenn der Anteil der Weißen unter den Hotelgästen in Berlin besonders hoch ist, der Anteil der Schwarzen unter den Barkeepern extrem hoch ist und der Anteil der PoC unter den Reinigungskräften bei 100 Prozent liegt.
Czyslansky ist das Blog von Michael Kausch. Hier schreibt er privat über alles, was ihn interessiert: Literatur, Hifi, Musik, Reisen, Fotografie, Politik und Digitalkultur.
Beruflich ist er als Kommunikationsexperte spezialisiert auf strategische und konzeptionelle Unternehmensberatung und Coaching im Bereich integrierter Unternehmens- und Marketingkommunikation, Markenkommunikation, Reputationsmanagement, Krisen-PR, strategisches Social Media Marketing, Inbound Marketing und vertriebsorientierte Öffentlichkeitsarbeit.
Eine Antwort
Ganz großartig. So mit das Beste zu Beckenbauers Tod, was ich bisher gelesen habe.