Twitter-Posts sin wie Worte in den Wind, kurz in den Cyberraum hinausgehauchte Beobachtungen und Bemerkungen über einzelne Themen oder über das Leben an sich. Ich erkenne erst langsam selbst den Wert solcher „Internet-Telegramme“, deren rigide Beschränkung auf maximal 140 Zeichen eine völlig neue, äußerst faszinierende Form von Kommunikationskultur entstehen lässt.
Nehmen wir nur die CeBIT 2009, auf der sich natürlich besonders viele Twitter-Anhänger tummeln, was in der Natur der Sache liegt. Aus vielen kleinen Kommentaren verdichtet sich ein Bild. So habe ich nacheinander über einen Zeitraum von rund 48 Stunden meiner mitlesenden Umwelt folgendes mitgeteilt:
„so schlecht kann es der cebit nicht gehen – der ice von muenchen nach hannover ist gerammelt voll“
„Guten Morgen! Wunderbar geschlafen in einem richtigen 2-Zi.Appt. – Hotel Frick in Langenhagen. 100 Euro – und das zur Cebit!“
„Mit dem Auto zur Cebit. 8:30 und weit und breit kein Stau!“
„Im Presse-Arbeitsraum der CeBIT sind am Abend des Pressetags (Montag) noch jede Menge Arbeitsplätze frei. Wo bleiben denn die Kollegen?“
„Habe gerade eine CeBIT-Bockwurst genossen. Den Plastik-Kartoffelsalat schenke ich mir lieber…“
„Es gibt jede Menge freie Schließfächer im Pressezentrum“
„re:cebit-stimmung – das presse-restaurant ist halb leer (oder halb voll). das schnitzel ist dagegen wie jedes jahr – ungeniessbar!“
„Träume noch vom Abendessen im Roma – Scampi, Lamm. Und das Beste: kein Gerhard Schröder am Nebentisch! Nur Thomas Gottschalk :-(„
„O-Ton Uli Pfaffenberger („Pfaffi“) von EditorNetwork: „Ich war 86 auf der ersten CeBIT, und ich werde 2014 auf der letzten wieder da sein.“
So, damit ist doch eigentlich alles gesagt, oder?
Alles gesagt? Eben nicht.
Twitter ist so informativ wie eine Soap Opera: Man erfährt schnell alles, aber insgesamt auch wieder nichts. Twitterfans könnten ebenso den ganzen Tag U-Bahn fahren. Da erfährt man auch belanglose Schnipsel, aber man kann die Leute dabei sehen. Kontext? Zufall. Große Gedankenbögen? Max 140. Rhetorische Pfauenräder? Wie denn!
Hey, wir veröffentlichen doch nicht unseren Notizblock, sondern wir verwenden unsere Notizen, um daraus ansprechende, witzige, informative oder unterhaltsame Texte zu machen. Schau nur die ersten drei Twits von Dir an – was gilt denn nun?
Gibt es Parallelen? Klar:
Früher hat man sich Briefe geschrieben. Die hatten den Vorteil, dass man sie später mal binden und herausgeben konnte. (Fast) jeder, der Grosseltern hat, die im vorletzten Jahrhundert geboren wurden, kennt den Buchrücken „Fürst Bismarcks Briefe an seine Braut und Gattin“.
Bald darauf wurde telephoniert. Was da gesagt wurde, ist verloren, größtenteils. („Czsyslankys Telephonate mit seiner Freundin und Lebensabschnittsgefährtin“ ist trotz seiner geringen Auflage nie verkauft worden. Aber es handelte sich ja nur um einen Epigonen des Grossen Czsyslanskys…)
Dann schrieben wir Emails, ebenfalls meist ungeeignet für die Veröffentlichung und mit den SMS war es endgültig vorbei mit Form und Aussage. Vergleicht man nun einen dieser Bismarck-Briefe mit einer SMS („Wollt nur gn8 sagen, hdl und knuddel“, „Ruf an oder es ist aus“), ist das nicht überraschend.
Wie wir also die Kommunikation ruiniert haben, genau so ruinieren wir nun die Schreiberei. Ok, ich nehme alles wieder zurück, wenn Du aus Deinen Twitterschnipseln wieder Artikel in gewohnter Qualität produzierst 🙂
Wart‘ ab: Ich arbeite an dem wegweisenden Band „Tim’s Twitts“. Ledereinband, Golddruck, schweres Papier. Wird bestimmt ein Bestseller!
Oh hätte der große Czyslansky doch schon Twitter zur Kommunikation zur Verfügung gehabt, was hätte seine Nachwelt für einen Schatz …