Es ist eine alte und gute Tradition bei Czyslansky immer wieder mal Gastautoren das Wort zu erteilen. Heute räsoniert Prof. Dr. Thomas Krämer-Badoni, Professor für Soziologie an der Universität Bremen und Autor zahlreicher Bücher über kultursoziologische Fragen, über die jüngte Diskussion um informationelle Selbstbestimmung und den fragilen Begriff der Privatheit nach der Debatte um die NSA-Affäre. Ein Beitrag, der Diskussionen erfordert, Diskussionen, auf die ich mich sehr freue.

Michael Kausch

Und nun zum Gastbeitrag von Prof. Dr. Thomas Krämer-Badoni: 

krämer-badoni

Seit wir gewahr wurden, dass die „National Security Agency“ (NSA) der U.S.A. sowie der britische Geheimdienst „Government Communications Headquarters“ (GCHQ) alle Daten sammeln, derer sie habhaft werden können, ist die Welt des Internet nicht mehr die, die sie noch vor kurzer Zeit zu sein schien. Aber es fällt schwer zu glauben, dass alle unsere „Experten“ blind gewesen sind, dass sie alle aus dem vermeintlich heilen Cyberspace krachend und schmerzhaft auf den Boden der politischen Realität stürzten. Das zu glauben fällt schwer.

Freilich stellten Computer und Internet von Anfang an eine so gewaltige Innovation dar, dass nach der anfänglichen Skepsis (Wie viele Arbeitsplätze kostet das? Wird das Arbeitsleben intensiviert?) beide mit großer Euphorie angenommen wurden. Die kontinuierliche Verbesserung der Nutzbarkeit mag zur Selbstverständlichkeit der optimistischen Technikakzeptanz beigetragen haben. Dabei reichten diese Optimierungen von der Entwicklung ergonomischer Nutzeroberflächen, über neue Funktionalitäten im Datenaustausch und die Entwicklung von Suchmaschinen bis hin zur Entstehung der sozialen Medien.

Dass es gerade die erfolgreiche Vernetzungsfunktion des Internet war, die zwingend zu den Ausspähpraktiken der Geheimdienste führte, das hätte man wissen können, auch ohne den Beleg des Whistleblowers Snowden. Und dass sich die elektronischen Steuerungsanlagen komplexer und lebenswichtiger Anlagen hervorragend für Sabotage aus dem Cyberspace und damit zu einer neuen Art der Kriegsführung eigneten, hätte man spätestens seit dem Angriff auf die iranischen Atomanlagen wissen müssen. Aber warum hat man solche Spuren trotz vielfältiger Hinweise nicht verfolgt? Warum hat man aus der Tatsache, dass selbst individuell agierende „Hacker“ in hochsensible Netze wie demjenigen des Pentagon eindringen konnten, nicht die richtigen Schlüsse gezogen? Wieso tat man dies nicht bei dem zum Massenphänomen gewordenen kriminell motivierten Datenraub? Warum wurde die Existenz von Viren, Trojanern und anderen Schädlingen als Ergebnis individueller Sorglosigkeit gesehen oder auf Sicherheitslücken zurückgeführt, also auf Ursachen, die prinzipiell durch einen vorsichtigeren Umgang und ein besseres Sicherheitssystem beseitigt werden könnten?

Um zu verstehen, warum die „privaten“ Nutzer des Internet diese Alarmsignale nicht erblickt haben, muss man sich zunächst verdeutlichen, welche Illusionen gerade die aktivsten Nutzer des Internets pflegten. Da ist zunächst die Illusion, Sicherheit im Internet sei eine Frage der technischen Entwicklung. Es reichte zu wissen, dass man den eigenen PC auf Viren und andere Schadensprogramme hin überprüfen lassen konnte. Kannte man die Schädlinge, dann konnte man sie auch unschädlich machen. Allerdings hatte man immer schon übersehen, dass die Entwicklung von Schadprogrammen und die Identifizierung dieser Schadprogramme sich zueinander verhielten wie Hase und Igel. Erst musste es ein Schadprogramm geben, bevor es identifiziert und bekämpft werden konnte. Der Hase konnte noch so schnell laufen, der Igel war schon vorher da. Die Entwickler von Schadsoftware haben gegenüber den Entwicklern von Sicherheitssoftware einen strukturell bedingten Vorsprung. Aber selbst in den Fällen, in denen sich Banken, Internetprovider, Industrien oder politische und militärische Institutionen mit einer komplexen Sicherheitsarchitektur zu schützen suchen, muss festgehalten werden: jede dieser Techniken kann geknackt, gekapert und korrumpiert werden. Um es schlicht und einfach auszudrücken: Diese Techniken sind von Menschen gemacht, sie können auch von Menschen verstanden, durchschaut und umgangen, zerstört oder mit unerwünschten Intentionen genutzt werden. Natürlich können Staaten in solche Sicherheitsarchitekturen viel Geld, Forschungskapazität und Personal investieren. Das bedeutet aber nicht, dass andere nicht in diese Sicherheitsarchitekturen eindringen könnten. Schon die Fähigkeiten einzelner Hacker verweisen auf die Verwundbarkeit komplexer Systeme. Daran wird sich nichts ändern.

Die zweite große Illusion war der Glaube, das Internet werde zur Demokratisierung der Gesellschaft führen. Felsenfest waren zahlreiche Aktivisten davon überzeugt, dass mit den Kommunikationsplattformen die Basis für eine direkte Demokratie, für eine schnelle und unbeeinflusste Meinungsbildung, für schnell herzustellende Kampagnen geschaffen worden sei. Und jetzt stellt man plötzlich fest, dass man bei all dieser Demokratie-Euphorie einem Instrument aufgesessen ist, das potentiell von allen Geheimdiensten der Welt beobachtet, registriert und auf vielfältige Weise ausgewertet werden kann. Jetzt ist das Internet kaputt, jetzt ist der PC ein kontaminiertes Gerät, hat sein Leben fast ausgehaucht. Der Sturz aus dem demokratischen Höhenflug ist steil, und der Aufprall hart. Aber das Ende der Demokratieillusion führt bislang nicht zu besseren Lösungen, sondern zu einer großen Hilflosigkeit. Die Ursache für den tiefen Sturz wird nicht in dem euphorischen Höhenflug gesucht, denn die Schuldigen sind ja schon bekannt: NSA, die Internetgiganten und die deutsche Regierung, der es nicht gelungen ist, die Bürger gegen Ausspähung zu schützen. Schlimmer noch, sie war ja nicht mal gewillt, wirkliche Anstrengungen zur Sicherung des Internet zu unternehmen.

Dabei hätte die Demokratieillusion schon frühzeitig als Illusion erkannt werden können Zustimmung und Ablehnung per Mausklick führt in der Tat zu schnellen und auch quantitativ relevanten Meinungsäußerungen, aber selten auf Grundlage eines Gedankenaustausches und einer argumentativen Auseinandersetzung. Dies führt nicht nur zu Kurzschlüssen und Schnellschüssen, sondern öffnet auch dem Populismus jedweder Couleur Tür und Tor. Petitionen können mit Hilfe der neuen Kommunikationsplattformen schnell hunderttausende Unterstützer finden. Doch noch schneller lassen sich „Shitstorms“ lostreten. Nachdenklichkeit setzt oft erst dann ein, wenn der Schaden solcher Strategien bereits eingetreten ist, und sei es auch nur in der Form des Erschreckens darüber, wie leicht es war, solche Massen von Menschen zu einer spontanen Meinungsäußerung zu bewegen, für die man als Individuum nicht mehr grade zu stehen hat – anders als die von einem Shitstorm betroffenen Personen, die dann tatsächlich bis zum Hals im Dreck stecken.

Damit möchte ich nicht sagen, dass die neuen Kommunikationsplattformen kein Potential zur Demokratieförderung darstellen, aber bis wir über eine Internetkultur verfügen, die eine Nutzung dieser Instrumente ohne Risiko des Missbrauchs zulässt, wird es noch lange dauern. Das eigentliche Problem, das der Entstehung einer solchen und so dringend benötigten Kultur entgegensteht, ist nicht die Technik. Das eigentlich Problem sind WIR: wir müssen neue Verhaltensregeln entwickeln und uns zu eigen machen; wir müssen Maximen einer zivilisierten Kommunikation nicht nur selber befolgen, sondern deren Befolgung auch von unseren Kommunikationspartnern und „Friends“ einfordern, was nichts anderes bedeutet als die Internalisierung von Verhaltensregeln, über die wir noch gar nicht verfügen. Bislang war unsere Kommunikationskultur geprägt von direkter persönlicher Kommunikation, vis-a-vis, telefonisch, schriftlich; oder indirekt durch Massenmedien. Aber immer waren Sprache, Schrift und Druck unsere Kommunikationsmedien, und eine geschützte Privatsphäre war die Voraussetzung dieser Art der Kommunikation. Das Briefgeheimnis, der Schutz der Intimität des Wohnens, das Telefongeheimnis, die Nichtöffentlichkeit unserer privaten Äußerungen – dies sind die grundlegenden Bestandteile einer demokratisch verfassten Gesellschaft und die strukturelle Voraussetzung unserer individuellen Existenz. So sind wir aufgewachsen nach dem 2. Weltkrieg, und vermutlich wachsen auch jetzt die Kinder noch so auf, zumindest diejenigen, deren Denken und deren Kulturwahrnehmung noch vor dem Siegeszug der Kommunikationsplattformen und der Zerstörung der Privatsphäre begonnen hat.

Eine zukünftige Gesellschaft wird sich maßgeblich von unserer heute noch existierenden Gesellschaft unterscheiden: Privatheit in der bisherigen Form wird es nicht mehr geben und nicht mehr geben können, es sei denn, die Weltgesellschaft zerfiele in Myriaden kommunikationslos nebeneinander existierender Gemeinschaften, in post-demokratische oder besser: post-zivilisatorische Stammesgesellschaften. Weder können wir so etwas wünschen, noch wird dieser Zustand je eintreten. Allerdings, ganz ausgeschlossen ist so eine Entwicklung nicht: Die Entstehung der Weltgesellschaft könnte solche Differenzierungen in ihrem Inneren durchaus aufkommen lassen.

Wenn unsere Überlegungen tragfähig sind, dass die neuen Kommunikationsformen und die Digitalisierung eine nicht reversible Entwicklung eingeleitet haben, dann folgt daraus natürlich auch, dass es eine Privatheit, wie sie sich als Strukturmerkmal der demokratischen Gesellschaften herausgebildet hat, nicht mehr geben wird. Und wenn die Technik nicht reversibel ist, wenn jede weitere Technik zu nichts anderem als einem Ver- und Entschlüsselungswettrennen führt, dann gibt es nur noch eine einzige Instanz, auf die es ankommen wird – und diese Instanz sind WIR.

Das mag nach Hybris klingen, anmaßend erscheinen, manche werden es für lächerlich halten. Aber tatsächlich ist nur der Mensch in der Lage, in einer solchen Situation Verhaltensentwürfe zu entwickeln, die eine zukünftige Gesellschaft vom Ballast der alten Gesellschaft entrümpelt und befreit, ohne die grundlegende Freiheit eines demokratischen Gemeinwesens preiszugeben. Wenn wir auch künftig frei leben und kommunizieren wollen, werden wir langfristig Gesellschaft neu denken müssen.

Eine „Privatheit“, wie wir sie kennen, wird es in der digitalen Gesellschaft nicht geben. Entweder wir geben die Nutzung des Internets auf, oder wir gehen das Risiko ein, dass alles, was wir schreiben und „posten“, was wir tun, wo wir sind und wen wir kontaktieren öffentlich wird. Oder besser: potentiell öffentlich ist. Denn nicht jeder Mensch wird jede Äußerung wahrnehmen, aber öffentliche Institutionen (und natürlich: die Geheimdienste) werden mit Hilfe von Auswertungsfiltern sich die Informationen suchen, von denen sie glauben, dass sie ihnen nützlich sind. Schulen, Arbeitgeber, Staatsanwälte, Polizei, alle diese Institutionen werden genau all die Bereiche durchforsten, die wir bisher als unsere ureigensten privaten Bereiche verstanden haben. Wenn wir uns als Jugendliche auf Partys so verhalten, wie es weder unsere Eltern noch die Schulen oder Ausbildungsstätten akzeptabel finden, wenn unsere Pornosucht oder die Kontakte mit der Konkurrenz unseren Arbeitgebern nicht gefallen, wenn wir von unseren Krankenversicherungen Kündigungen erhalten, weil unsere Suche nach Stichworten wie „Niereninsuffizienz“, „Herzversagen“, „Myasthenia gravis“ oder „Geschlechtskrankheiten“ sie darin bestätigt hat, dass wir künftig zu teure Patienten sein werden, wenn alle diese Dinge passieren (sie geschehen ja heute schon), dann wird es auf zweierlei ankommen:

Dafür müssen wir Rechtsformen finden, aber angemessene Rechtsformen wird man nur dann finden können, wenn wir in einem zähen Ringen mit uns selbst eine neue Kultur der Kommunikation entwickeln. Rechtsformen sind in Regeln gefasste Gesellschaft. Angesichts der gesellschaftlichen Transformationen, die uns bevorstehen, wird die Entwicklung einer neuen Kultur der Kommunikation Jahrzehnte dauern. Der Weg wird lang und steinig sein, aber wir werden ihn gehen müssen. Auch für uns gibt es kein zurück. Wohin auch?

Prof. Dr. Thomas Krämer-Badoni

Eine Antwort

  1. Leider ist der Hinweis auf Jens Crueger, Historiker und fb-Freund, unter den Tisch gefallen. Der Diskussion mit Jens Crueger verdanke verdanke ich viel. Die Verantwortung verbleibt trotzdem bei mir.

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