George Orwell verdanken wir den Begriff der „Gedankenpolizei“. Nur, dass seine verdeckt arbeitenden Psycho-Büttel Im Roman 1984 auf Dinge wie angewandte Psychologie bei Befragungen und natürlich auf allgegenwärtige Überwachung angewiesen waren, um die Mitglieder der Gesellschaft zu finden, die dazu fähig sind, Kritik an der offiziellen Doktrin zu üben. In Zukunft werden sie es wesentlich leichter haben. Ein „brain scan“ genügt bereits heute, um einen Tatverdächtigen rechtskräftig wegen Mordes zu verurteilen, wie das Beispiel eines Gerichts im indischen Bundesstaat Maharashtra beweist.
Der Fall lässt zumindest mir die Nackenhaare zu Berge stehen: Eine gewisse Aditi Sharma stand unter dem Verdacht, ihren Verlobten, Udit Bharati, in einem McDonald’s-Restaurant in Pune vergiftet zu haben. Die 24 Jahre alte Sharma erklärte sich damit einverstanden, sich einem Test namens „Brain Electrical Oscillations Signature“ (BEOS) zu unterziehen, das vom indischen Neuroforscher Champadi Raman Mukundan, einem früheren Mitarbeiter des National Institute of Mental Health and Neuro Sciences in Bangalore, entwickelt wurde.
Der Test beginnt zunächst mit einem Elektroenzephalogramm oder EEG, bei dem die elektrischen Aktivitäten des Gehirns aufgezeichnet werden. Nachdem sie 32 Elektroden an ihrem Kopf angebracht hatten, lasen die Ankläger Frau Sharma mehrer Sätze vor, die bewußt in der ersten Person verfasst waren (“ich kaufte Arsen“, „ich traf Udit bei McDonalds“). Zur Kontrolle wurden ihr auch neutrale Sätze vorgelesen wir „der Himmel ist blau“.
Der Richter, ein gewisser S. S. Phansalkar-Joshi, verurteilte die Frau, die hartnäckig jede Beteiligung an der Tat leugnete, zu lebenslanger Haft und schrieb in seiner Urteilsbegründung, der BEOS-Test habe überzeugend nachgewiesen, dass sie „selbst erlebtes Wissen“ über die Tat besitze, also Details, die sie nicht nur vom Hörensagen her kennen könne.
Einem Bericht der “International Herald Tribune” zufolge setzen bereits zwei indische Staaten, Maharashtra and Gujarat, BEOS in Gerichtsverfahren ein. Alleine in Maharashtra, sollen rund 75 Tatverdächtige bis heute mit dieser Methode elektronisch “verhört” worden sein. Der Fall Sharma sei allerdings das erste Mal gewesen, dass es ausschließlich aufgrund der Aufwertungsergebnisse zu einer Verurteilung gekommen sei.
Fast noch beunruhigender ist ein Nebensatz in dem Beitrag der IHT, in dem es heißt, die US-Regierung investiere seit den Terroristenangriffen vom 11. September 2001 ungenannte Summen in die Entwicklung von „gehirnwellen-basierten Lügendetektoren“. Dazu sollen Systeme zählen, die den Kopf des Delinquenten mit Infrarotstrahlen durchleuchten oder Scanner, um winzige Bewegungen der Augen beim Verhör aufzuzeichnen. Das Blatt nennt keine Quellen für diese Erkenntnisse, die ja vermutlich der amtlichen Zensur in den USA unterliegen, weist aber auf Veröffentlichungen amerikanischer Wissenschaftler wie Emanuel Donchin, Lawrence Farwell and J. Peter Rosenfeld hin.
Wir müssen also davon ausgehen, dass die USA bereits über solche Verfahren verfügt – ich meine, wenn man in Bangalore schon so weit ist, was wird das NSA in seiner Trickkiste haben?
Übrigens: Orwell bekam seine Idee von der „thought police“ aus Japan, wo 1936 ein „Gesetz zum Schutz und zur Überwachung von Gedankenverbrechern“ verabschiedet wurde. Bereits 1911 war dort die „Spezielle Höhere Polizei“ (Tokubetsu kōtō keisatsu, auch kurz „Tokko“ genannt) gegründet worden, die wegen ihrer Aufgabe, „gefährliche Gedanken“ wie z.B. den Marxismus zu bekämpfen, unter dem Namen „Gedankenpolizei“ bekannt war. Sie durfte „Gedankenverbrecher“ allein aufgrund einer vermuteten regimefeindlichen Einstellung präventiv in Haft zu nehmen.
Das alles wirft für mich eine Reihe von sehr, sehr ernsten Fragen auf. Hier ein paar davon:
- Können sich Schäuble & Co. die ganze Online- und Telefonüberwachung in Zukunft schenken?
- Kann es überhaupt den perfekten Lügendetektor geben, oder ist die anzunehmende Fehlerquote nicht viel zu groß, als dass ein deutsches Gericht je dem indischen Vorbild folgen wird?
- Ist das endgültig das Ende der Privatsphäre?
- Wenn ja: Ist das mit der durch Artikel eins des Grundgesetzes geschützten Menschenwürde vereinbar?
Der IHT zufolge ist das BEOS-Verfahren von Mukundan im Westen noch nie einem ordentlichen Peer-Review unterzogen worden. Offenbar möchte der Mann damit reich werden und rückt deshalb nur ungerne mit Details über seine Forschungsabreit heraus. Das zumindest sollte aufhören: Forscher hierzulande sollten sich möglichst schnell an einer internationalen Überprüfung der aufgestellten Behauptungen über den Wirklungsgrad von BEOS beteiligen – und sei es auch nur, damit wir überzeugende Argumente parat haben, wenn – was meines Erachtens unweigerlich kommen wird – die Hardliner in Polizei und Regierung in unserem Lande dahinter kommen, dass sowas machbar ist und ganz schnell ein entsprechendes Gesetz nachschieben. Selbstverständlich ohne große öffentliche Debatte.
Erinnern Sie sich an Tom Cruise in Steven Spielbergs „Minority Report“? Von wegen Science Fiction: Orwell lässt grüßen!
2 Antworten
Glaubst du nicht, dass das eine Arabeske ist, die keine Schule machen wird? Es müsste doch jedem einleuchten, wie unsicher ein solches Verfahren ist. Schließlich ist nicht einmal der bekannte Lügendetektor, den es schon seit Jahrzehnten gibt, als Gerichtsbeweis zugelassen.
Würde ich schon, wenn
a) nicht schon ein Gericht in einem ausgesprochen zivilisierten Land (Indien hat sein rechtssystem von Großbritannien geerbt) das Verfahren bereits als Urteilsbegründung akzeptiert hätte und ich
b) inzwischen Schäuble & Co so ziemlich alles zutrauen würde.