“Beim Betrachten alter Fotos ist es oft schwer, sich angesichts der Lächerlichkeit der getragenen Kleidung und Frisuren zwischen Lachen und Weinen zu entscheiden.” Ich kann Sascha Lobo da wirklich verstehen – zustimmen mag ich ihm nicht!
Sascha Lobo bezeichnet sein Leiden in seiner gestrigen Kolumne auf SPIEGEL-Online als “Ich-Schmerzen”, die immer dann auftreten, wenn man mit seiner eigenen Vergangenheit konfrontiert wird. Und in Zeiten der umfassenden digitalen Archivierung der Ich-Entwicklung in Facebook, Twitter & Co. nähmen diese Ich-Schmerzen natürlich zu.
“Wer soziale Netzwerke nutzt, wer E-Mails verschickt oder SMS, findet sich immer wieder mit den Texten und Textchen konfrontiert, die das damalige Ich aufgeschrieben hat. Je älter und persönlicher das Aufgeschriebene, desto seltsamer fühlt es sich oft an. Objektiv betrachtet kann man dabei nur verlieren.”
Findet man seine überlieferten Frühwerke gut, so hat man sich nicht entwickelt oder unterliegt einer massiven Selbstüberschätzung. Findet man sie schlecht, so schämt man sich für seine frühere Blödheit. So geht es jedenfalls Sascha Lobo. Deshalb tut ihm immer mehr weh. Ein Entrinnen gibt es nicht. Denn der Verfolgung durch das eigene vergangene Ich kann der virtuell-soziale Mensch nicht entgehen. Mehr ICH war nie.
Armer Sascha! (S)einen Ausweg findet er in der Schizophrenisierung Ernst Blochs, in der Hoffnung, die ihm um des hoffnungslosen Ichs willen gegeben ward. Sascha Lobo erhofft sich von seiner umfassenden Präsenz in den sozialen Medien und der damit einher gehenden fortlaufenden Konfrontation mit seinem Ex-Ich “mehr Toleranz”: “Die Dokumentationsmaschine Internet könnte so zu einer neuen Toleranz beitragen: Der gesellschaftlichen Akzeptanz der Tatsache, dass fast alle mit einem phasenweise bescheuerten, vergangenen Ich-Zwilling zurechtkommen müssen, von dem man sich viel zu oft wünscht, ihm rechtzeitig eine Ohrfeige verpasst oder wenigstens die Tastatur weggenommen zu haben.”
Der Personalchef stellt eingedenk der Blödheit seines eigenes Ex-Ichs, den Kandidaten ein, trotz der lächerlichen Figur, die dieser zehn Jahre zuvor während einer wilden von Facebook dokumentierten Orgie abgegeben hat.
Ich halte das für eine traurige Perspektive, die letztlich Toleranz mit Ignoranz verwechselt, die dazu führt, dass wir mit unserer eigenen Vergangenheit nicht verständnisvoll sondern verdrängend umgehen. Die wallende Haarpracht meiner späten Jugend waren ein wichtiger und subjektiv historisch richtiger – und objektiv natürlich historisch völlig irrelevanter – Ausdruck meiner Identität. Für MEIN ICH nehme ich in Anspruch, dass es niemals “blöd” war. Da gibt es nichts zu schämen und nichts zu verdrängen. Jede Äußerung dieses Ichs, ob in Textform oder als Frisur, will historisch “verstanden” werden. Das wäre eine aufgeklärte Version von Toleranz, die das bloße “Erdulden” (lateinisch “tolerare”) im Sinne der “repressiven Toleranz” Herbert Marcuses hinter sich lässt und durch Verständnis ablöst.
Die von Sascha Lobo geforderte Selbstdistanzierung "ja, da war ich wohl gerade dämlich" ist bloße Verdrängung und Selbstverleugnung. Obendrein negiert sie die Verpflichtung jederzeit bewusst mit sozialen und archivierenden Medien umzugehen. Wenn einem das Geschwätz von gestern gleichgültig sein darf, dann braucht man sich um seine Reputation nicht länger zu kümmern. Das aber wäre verhängnisvoll. Sascha Lobos Plädoyer zur pseudotoleranten Ignoranz gegenüber dem eigenen Ex-Ich ist gefährlich. So angebracht es sicherlich ist, vom viel zitierten Personalleiter Toleranz gegenüber dokumentierte Jugendsünden seiner Bewerber einzufordern, so notwendig ist doch aber auch eine Bewusstseinsbildung über den dokumentarischen Charakter sozialer Medien und über den von diesen bewirkten neuerlichen Strukturwandel der Öffentlichkeit. Wer in den 60iger Jahren als Porno-Modell Karriere machte, dem war der Weg zur Familienministerin weitgehend versperrt. Was Käte Strobel damals schon wusste, sollt man fünfzig Jahre später auch jugendlichen Facebook-Usern als lernbar unterstellen. Bewusstes Reputationsmanagement ist zu fordern. Sascha Lobos Plädoyer zur Ignoranz gerinnt letztlich zur repressiven Toleranz und macht Medienpädagogen die Arbeit nicht gerade leichter. Um es in seinen Worten zu formulieren: sein Jetzt-Ich erzählt Quatsch!
Über Herrn Lobos Lamoryanz habe ich mich auch erst geärgert. Und doch hat mich der Artikel fasziniert, weil da einer sehr narzisstisch an sich selbst leidet und das schon wieder so eloquent, dass eine gedruckte Biografie wohl zu erwarten ist.
Der Biografien-Boom, es schreibt ja heute schon der 17jährige Popstar eine, ist m.E. nichts anderes als eine zunehmend exhibitionistische Lust an den eigenen Befindlichkeiten. Es sind eigentlich nur gedruckte ungefilterte Blog- oder Facebook-Inhalte, die sich Biografie nennen, und ich frage mich immer, wer die wirklich liest und sich in den Bücherschrank stellt, damit umzieht…?
Print und Internet dokumentieren (leider), was früher gnädig vergessen wurde, weil es für den RoW völlig uninteressant war. Ich finde übrigens, die Leser leiden darunter viel mehr, als die Schreiber.
Every day, in every way, I keep getting better and better!
@Tim
Hast du Klinsmann als Personal Coach rekrutiert ??? Ach …
Aber im Ernst: Ich finde doch, dass dies ein Beispiel ist, in dem Toleranz repressiv wird. Und deshalb muss man solche Wurstigkeitsmissionare ernst nehmen. Sie lohnen eine Auseinandersetzung, die über den schnellen Scherz hinausgehen …
Also, ich schäme mich meiner „Frühwerke“ nicht. Ich sehe sie eben im Zusammenhang mit meiner damaligen Entwicklungsphase, der Zeit, dem Zeitgeist u.s.w.
Soll ich mich dafür schämen, dass ich bei meiner Einschulung 1975 eine Schlaghose und ein Karohemd mit spitzem Kragen getragen habe?
Nein, schämen müsste ich mich vielleicht wenn ich heute so herumlaufen würde (vor allem mit der Schultüte) …
Ich schäme mich auch nicht für einen meiner ersten Tweets vom 14.02.2008: „Heute Abend rambo im Kino. Eine Legende ist immer noch nicht tot.“
Weder, dass ich Rambo klein geschrieben habe, noch dass ich 2008 so einen Film gucke!
So ist das mit mir, so war das mit mir … und das ist auch gut so!
Mag sich Sascha schämen, ich tu’s nicht.