Rezension: „71/72 – Die Saison der Träumer.“ Der Traum ist aus.

71_72_Saison der Träumer

1971/72 war ein großartiges Jahr.  Ich pubertierte heftig vor mich hin und war hin- und hergerissen: hingerissen vom elegantesten Fußball den man bis dahin je gesehen hatte und von den elegantesten Frauen, die man sich als linker Nachwuchsrevolutionär so erträumen konnte. Bis dahin war ich eher unauffällig, langweilig, spießig, provinziell. Ab 1972 wuchsen mir am Kopf die Haare, im Kopf die Ideologien, an den Boots die Fransen und für die Beine kaufte ich mir die ersten weinroten Cord-Jeans im einzigen Jeans-Laden meines Heimatortes. Manchesterhosen, wie meine Oma sie betitelte. weinrot, mit geprägter Blütenornamentik. Darüber lange Slimline Pullover aus irgendeinem Kunststoff. An der Taille – sowas ich hatte damals – trug ich einen schwarzen Ledergürtel, da drüber im Winter ein Parka, die ungewaschenen Haare mit Trockenschampoo aufgemöbelt. Kurz: ich war von heute auf morgen auffällig, kurzweilig, revolutionär – aber immer noch provinziell bis auf die Knochen. Und fußballverrückt. Im Kassettenrekorder Marke Grundig – ich komm aus Franken – spielten Doors, Jethro Tull und natürlich auch Ton, Steine, Scherben.

Außerdem erinnere ich mich noch immer an das Jahr des Bundesligaskandals, in dem die junge revolutionäre Gesinnung brutal auf die Begeisterung für den Ball stieß. Ich ja war einigermaßen fein raus. Meine Glubberer spielten seit 1969 in der Regionalliga Süd. Wer sollte die schon schmieren? Eben. Niemand. Die spielten für Zwa-in-am-Wegg-und-am-Seidla.

Die damals eingleisige Bundesliga war nicht so spannend. Aber die Nationalmannschaft, die spielte damals traumhaft. Und wirklich erinnere ich mich noch heute an das Endspiel der Europameisterschaft gegen die UdSSR 1972. Und auch viele der Namen der Italiener 1970 (Mechico!) fallen mir noch spontan ein: Riva, Rivera, Mazzola, Boninsegna, … Diese Liste hat mir schon einige kostenlose Grappe bei meinem Stammitaliener eingebracht.

Aber eigentlich will ich ja ein Buch vorstellen. Ein zauberhaftes Buch. Ein Buch, das eine Idee verfolgt, die ein wenig durchgeknallt, aber wunderschön  ist …

Netzer und Beckenbauer sind die sozialliberale Koalition auf dem Fußballfeld

1972 spielt die deutsche Nationalmannschaft so Fußball, wie die sozialliberale Bundesregierung Politik macht: entspannt und demokratisch! Es ist ein moderner Fußball, kein Altherrengebolze. Sie spielen intelligent, dynamisch und abwechslungsreich, team- und ergebnisorientiert, nicht hierarchisch. Nicht Helmut Schön als Bestimmer schafft an, sondern das Team regiert sich selbst. Netzer und Beckenbauer wechseln sich in ihren Rollen ab. Es gibt keinen Feldwebel auf dem Platz. Helmut Schmidt ist noch nicht Kanzler.

Der Auto Bernd Beyer ist Mitbegründer des Verlags Die Werkstatt und hat schon mit seiner Biografie über Helmut Schön bewiesen, dass er mit Leib und Seele dem Fußball verfallen ist und dabei trotzdem kritische Distanz zu seinem Objekt der Begierde bewahren kann.  Er liebt den Ball und kritisiert kenntnisreich den Fußball.  Er schließt Analogien zwischen der Entwicklung im Sport und gesellschaftlichen Trends, etwa in Politik und Kultur. Das macht auch Sinn. Denn natürlich kann man die Entwicklung des Sports nur verstehen, wen man zugleich die Entwicklung in der Architektur versteht – die großartige Architektur der Olympischen Spiele 1972, die Brandt-Jahr in der Politik. Mehr Demokratie wagen, mehr Spiel über die Flügel wagen.

Sagte ich schon, dass ich ein Fan von Otl Aicher bin, jenem Designer, dem wir wesentlich die Farbsymbolik von Olympia 72 verdanken? Hat schon jemand bemerkt, dass das Farbraster von vibrio exakt das Farbraster von Olympia 72 ist? Das hat natürlich seinen Grund…

Die Bayern: Beckenbauer, Müller, Hoeneß, Breitner: Warum sie sind, wie sie sind.

Bernd Beyer berichtet natürlich auch von den Spielern und wir sehen, dass die heutige Reputation der Bayern-Matadore sich schon damals entwickelt hat.

Der Kaiser

Der Autor erzählt wie Beckenbauer zwar immer schon konservativ war, aber eben immer auch ein Genie. er war wirklich ein Großer. An ihm gibt es menschlich nichts zu mäkeln. Er kommt im Buch nicht schlecht weg. Ich kann mich dem nur anschließen. Ich habe Beckenbauer so um 1990 kennengelernt. Auf der CeBIT wurde er mir plötzlich und ohne Vorwarnung von einer lieben Kollegin von NEC „übergeben“. Plötzlich sollte ich ihn eine Stunde auf dem Microsoft-Stand unterhalten. Normalerweise hätte ich einen Fototermin organisiert, ein bisschen Presserummel gemacht, das Übliche halt. Dumm nur, dass ich vorab nicht informiert war. Also hab ich ihn gefragt, ob ich richtig liege mit der Annahme, dass er sich eher gar nicht für die Computerei interessiere und er dem Messetrubel am liebsten eine Stunde entgehen würde. Er meinte „Ja scho“. Also haben wir uns eine Stunde in einem Meetingraum versteckt und ein kleines Bier getrunken und über Fußball unterhalten. War nett.

Der Bomber

Vom Bomber berichtet Beyer, dass er eben nicht nur ein Abstauber war, sondern ein König des intelligenten Doppelpassspiels. Er war nicht der Provinzdepp aus Nördlingen, sondern einer, der das Spiel von vorne aus lesen konnte.  Aber er war eben kein Selbstdarsteller, keiner der sich gut verkaufen konnte. In diesem Punkt glich er einem großen Schalker, Stan Libuda, einem anderen Provinzhelden, der geniale Tage hatte, aber auch völlige Ausfälle. Gerd Müller war einer der am meisten unterschätzten Bayern-Spieler. Er war Spieler, keine Tormaschine.

Ego-Hoeneß

Uli Hoeneß verdankt nicht nur der FCB viel, sondern sicherlich auch der deutsche Fußball. Aber eine Figur zum Verlieben war und ist er sicherlich nicht. Und es gibt wohl keinen Fußballer, der schlechter in dem Buch über die Träumer wegkommt, als eben Uli H. Hoeneß, der spätere Macher des ewig erfolgreichen FCB wird als echter Egozentriker geschildert, der schon früh den FCB erpresst und dem nichts wichtiger war als sein persönliches Weiterkommen. 71/72 war ein neben Paule Breitner der Nachwuchsstar bei den Bayern und, folgt man den Schilderungen Beyers, vor allem darauf bedacht schnell reich und berühmt zu werden. Nein, Beyer ist kein FCB- und erst recht kein Hoeneß-Fan. Und nach der Lektüre des Buchs wird einem auch klar, dass das Reputationsproblem von Verein und Mann bei allen Nicht-FCB-Fans seine Ursachen schon in den frühen 70iger Jahren hat. „Zieht ihnen die Lederhosen aus“ – das war schon der Traum vieler Fußball-Fans als die Bayern noch nicht so übermächtig die Bundesliga dominierten wie heute.

Der rote Paule

Paul Breitner lies sich damals mit Mao-Bibel abbilden und machte Wahlkampf für die SPD. Eigentlich tat er alles, um sich von seinen CSU-Mitspielern abzusetzen. Bernd Beyer  erzählt, wie Breitner einmal unangemeldet in der WG der Musiker von Ton-Steine-Scherben auftauchte. Er wollte mal gucken wie die Leute so wohnten, die so tolle Musik machten. Rio Reiser, der Sänger der Scherben und später zwar nicht Kaiser aber doch immerhin „König von Deutschland“ und absoluter Fan von Breitner hat offenbar jahrelang bedauert, dass er ausgerechnet bei diesem Besuch nicht zuhause war.

Tatsächlich hing damals über vielen WG-Betten neben einem Ché-Poster einträchtig ein Bild von Breitner.

Vor Jahren haben mich mal zwei kleine Buben beim Aussteigen aus einem MVV-Bus angestarrt, ihre Köpfe zusammengesteckt, dann hat einer den anderen angeschubst und der ging dann mutig auf mich zu und fragte aufgeregt „Bist du der Breitner?“ Ich musste ziemlich lachen und hab ihm erklärt „Lieder nein.“ wir haben uns lange unterhalten und ich hab ihm gesagt, dass ich auch ein Fan von Breitner sei. Ich bin nur froh, dass er mich nicht für Hoeneß gehalten hat. Keine Ahnung wie ich reagiert hätte…

Die Linke und der Rechtsaußen

Die Pressesprecherin der Scherben und heutige Grünen-Politikerin Claudia Roth schreibt über das Buch 71/72: „Ein begeisterndes und ganz wunderbar zu lesendes Buch“. Und Bernd Beyer weist darauf hin, dass zwei Männer zufällig im selben Jahr verstorben sind: der bereits erwähnte Rio Reiser und Stan Libuda, der begnadete Rechtsaußen von Schalke 04, über den es damals hieß: „An Gott kommt keiner vorbei – außer Stan Libuda“.

Libuda war immer auch ein Liebling der Linken, was wohl daran lag, dass er der geborene Underdog war. Er lebte im Arbeiterviertel Haverkamp in Gelsenkirchen  (nicht zu verwechseln mit Kommissar Haferkamp im WDR Tatort) und er scheiterte tragisch mit Schalke gegen die Bayern in der Meisterschaft 1972. Seine Karriere erhielt einen Knick mit seiner Verstrickung in den Bundesligabestechungsskandal. Seine Ehe scheiterte, er verstarb 1996 weitgehend verarmt viel zu früh mit 52 Jahren. 

Im selben Jahr starb Rio Reiser. Er wurde nur 46 Jahre alt. Bei beiden spielte der Alkohol wohl eine furchtbare Rolle. Beide hatten zu schnell gelebt, zu viel geträumt oder sie sind an ihren Träumen gescheitert. Vielleicht sind sie auch an unseren Träumen gescheitert.

Es gibt Träume, die sind schön, aber nicht ungefährlich. Es gibt ja auch viele wunderbare Schriftsteller die sich zu Tode gesoffen, viele Musiker, die sich zu Tode gespritzt haben. Wir genießen die Resultate ihres Schaffens trotzdem.

Lest das Buch. Es ist ein Genuss ohne Reue.

Ach ja: ein kleines Video will ich hier noch einstellen. Ich habe es beim Lesen des Buches wieder entdeckt. 1971 zieht der Scherben-Manager Nikel Pallat in einer WDR Talkshow plötzlich ein Hackebeil unter seinem Jacket hervor und zertrümmert den Studiotisch. Er versucht es zumindest. „Fernsehen ist ein Unterdrückungsinstrument in dieser Massengesellschaft“, sagt Pallat, „und deswegen mach ich jetzt hier diesen Tisch mal kaputt, ja.“ Die anderen Gäste ziehen sich eher gemächlich ein paar Meter zurück und kehren dann ebenso gemächlich zurück. Alles sehr unaufgeregt. Waren halt irgendwie andere Zeiten damals, 71/72:

 

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2 Antworten

  1. Lest das Buch. Es ist ein Genuss ohne Reue…
    sagte der Rezensent.

    Das werde ich, entgegnete der Leser und nahm es sich fest vor. Denn auch wenn er ein paar Jahre jünger ist und 1972 noch in der Grundschule war, die Namen kannte er. Idole seiner Kindheit.
    Und er meinte nicht Rio Reiser damit.

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