Meine Mutter war eine Frau, die sich nachhaltig über etwas aufregen und ärgern konnte: Wenn man sie nicht ernst nahm. Noch Jahre später erzählte sie immer wieder eine Geschichte über einen Vorfall, der sie zur Weißglut gebracht hat.
Das muss in den 60ern im letzten Jahrhundert des vorangegangenen Jahrtausends gewesen sein. Sie war auf einer Feier ihrer Schwester eingeladen, bei der es vor jungakademischen Schnöseln und Wichtigtuern nur so wimmelte. Meine Tante – also die Schwester meiner Mutter – hatte sich gerade einem aufstrebendem Germanistik-Doktoranten an der Universität Bonn an den Hals geworfen. Und selbiger verkehrte natürlich nur in den akademo-snobistischen Elite-Kreisen, in denen man zu Mettigel, Sauern mit Persico und Käse-/Weintraubenspießchen allerlei Pseudogehaltvolles von sich gab, je intellektueller, je besser. Einer dieser Partygäste übte sich in Konversation mit meiner durchaus gebildeten, aber unakademisch bodenstämmigen Mutter und erzählte ihr von einer Maschine, die ihn begeisterte. Das sei ein Kästchen mit einem Knopf. Drückt man darauf, öffnet sich das Kästchen, eine Hand greift aus dem Kasten, drückt den Knopf erneut, worauf sich der Kasten wieder schließt. Das ist heutzutage nichts Besonderes mehr und ist bei Youtube zu sehen. Damals aber eben berauschte es diesen rollkragentragenden Existenzialisten. Und so kommentierte der Schnösel, ihm laufe regelrecht ein transzendentaler Schauer angesichts des Absurden den Rücken herunter. Eine Maschine, die nur die Funktion hat, das, was sie eben getan hat, wieder rückgängig zu machen. Das sei Absurdität im höchsten Camus’schen Sinne, ob sie – also meine Mutter – das nicht auch so sehe. Anders könne man das sinnhaft-sinnlose nicht begreifen.
Meine Mutter kam sich angesichts dieser Auslassungen etwas verlassen vor. Er habe sie, so regte sie sich noch viele Jahre später auf, da stehen lassen, wie eine dumme ungebildete Gans. Denn natürlich wusste sie nicht, was ein transzendentaler Schauer ist. Wenn Sie das auch nicht wissen, dann haben Sie jetzt zwei Möglichkeiten.
Variante 1:
Googeln Sie. Das führt Sie – ich habe es soeben probiert – aber nicht wirklich weiter. Zwar gibt es nach 0,42 Sekunden 18.300 Treffer, aber keinen einzigen, in dem dieses Wort in genau dieser Kombination auftaucht, geschweige denn dass es einen Wikieintrag gibt, der einem nur annähernd verrät, was dieser Klugscheißer vor knapp 50 Jahren gemeint haben mag.
Variante 2:
Sollten Sie im Besitz eines Android-Handys sein, dann kaufen Sie sich im Google-Play-Store doch einfach die App S.M.T.H. Die nämlich ist so ungefähr das Absurdeste, was es derzeit auf dem Markt gibt. Seit einiger Zeit können Sie mit dieser App, die den klangvollen Namen Send Me To Heaven heißt, messen, wie hoch (nicht wie weit!) Sie ihr Handy werfen können. App einschalten, hochwerfen und schauen, was Sie so drauf haben. Danach allerdings ist ihr Smartphone vermutlich – zumindest, wenn Sie die Flugbahn falsch berechnet haben, kein Catcher beim Baseball sind oder über ausreichend Schaumstoffmatten verfügen – hin. Zerschollen beim Aufschag. Lost in Experiment sozusagen.
Natürlich gibt es in der App ein Tutorial, das einen ausdrücklich darauf hinweist, man solle darauf achten, dass genau das nicht passiert. Aber mal ehrlich: Was für einen Unsinn man auch anbietet, die Leute kaufen es und probieren es aus.
Apple-Nutzer haben hier allerdings das Nachsehen. Der Apple-Store, der die App auch vorrübergehend im Angebot hatte, hat sie wieder ausgelistet. Dafür mag es zwei Gründe geben: Entweder ist Apple um Sorge um seine doch nicht so bruchsicheren Geräte oder Apple hält seine Käufer für so blöd und ungeschickt, dass die ihre iPhones tatsächlich durch die Gegend werfen, nicht auffangen und am Ende Apple um Schadensersatz verklagen, weil das nicht auf dem Gerät stand.
Wer kann das wissen?
Klarer Fall von einem Phänomen, das als „Schrödingers Smartphone“ in die Geschichte eingehen wird: Da du nicht wissen kannst, was nach dem Wurf passiert, mußt du davon ausgehen, dass dein Handy gleichzeitig kaputt ist und funktioniert. Quanten-Kommunikation, sozusagen. Camus hätte sicher seine helle Freude daran gehabt!
Über Nacht erhalte ich die Nachricht von Noah Blumenthal, der hier eine unglaubliche Parallele zum großen Czyslansky sieht. Blumenthal, der sich derzeit auf eine Promotion bei der Universität of Yorckshire auf den Britischen Jungferninseln vorbereitet und bereits € 3.600 angezahlt hat, stellt fest, dass Czylansky in seiner Jugend ebenfalls mit Hochwurf-Experimenten beschäftigt war. Und zwar ganz Ähnlichen.
In Blumenthals Promotionsarbeit, die uns leider noch nicht vorliegt, erwähnt der Freizeitforscher, dass Czylansky damals ballistische Experimente (alt.griech. βάλλειν: werfen) mit einer goldenen Taschenuhr durchgeführt hat. Diese hatte ihm sein Großcousin Petr aus Prag zur Bar Mitzwa geschenkt, Smartphones und Apps waren damals ja eher selten.
Eher zufällig entdeckte Czyslansky, so Blumenthal in seiner bemerkenswerten Schrift, dass Taschenuhren deutlich höher geworfen werden können, wenn man die Uhrenkette zuvor vom Hosenbund entfernt.
Hätte nicht fast zeitgleich die Armbanduhr die Taschenuhr verdrängt, Czyslanskys Beobachtung hätte die Geschichte der Physik grundsätzlich revolutioniert. So aber geriet diese Entdeckung eines Pubertierenden ins Abseits der Wissenschaftsgeschichte.