Manche Voraussagen aus den Frühtagen des Internet wirken heute seltsam blauäugig. Eine davon ist diese: „Durch das Internet spielt Distanz keine Rolle mehr.“
Es ist auch nicht das erste Mal gewesen, dass sowas behauptet wird. Ende des 19ten Jahrhunderts waren es die Eisenbahnen, die angeblich die räumliche Entfernung zusammenschrumpfen lassen sollten: Menschen und Waren ließen sich ja fortan in kürzester Zeit überall hin transportieren, also spiele sie für künftige Geschäftsmodelle keine besondere Rolle mehr.
Mehr als hundert Jahre später wetterte 1997 die britische Journalistin Frances Cairncross vom Wirtschaftsmagazin The Economist gegen die „Tyrannei der Geografie“ . In ihrem Buch „The Death of Distance“ prophezeite sie, dass elektronische Kommunikationsmedien wie das Internet Staatsgrenzen verschwinden lassen würden. Die Menschen würden sich bald nur noch dort niederlassen, wo ihnen das Wetter am besten gefällt. Der freie Fluss von Waren und Dienstleistungen rund um den Globus würde zu weltweitem Wohlstand und einer gerechten Resourcenverteilung führen.
Nun, es sind seitdem fast 20 Jahre vergangen, und wir stecken immer noch fest im Griff der Geografie. Entfernung spielt nach wie vor eine Schlüsselrolle im Wirtschaftsleben. Ja, es stimmt, dass digitale Produkte dank allgegenwärtigem Internet und immer smarteren werdenden Mobilgeräten theoretisch verzögerungsfrei ausgeliefert und verwendet werden können. Aber bis eine Dose Bier oder eine Rolle Klopapier zum Kunden findet ist immer noch eine ausgeklügeltes, hochkompliziertes und kostenintensives System nötig, das wir als die moderne Logistik bezeichnen, nämlich die Planung, Steuerung, Durchführung und Kontrolle von Material.- und Informationsflüsse. Selbst ein ausgewiesener Visionär wie Marc Andreessen, der Begründer von Netscape und Erfinder des Internet-Browsers Mosaic, tut sich schwer mit der Frage, welche Rolle die Distanz in Zukunft spielen wird. Der stationäre Einzelhandel werde bis 2020 verschwunden sein, behauptete er noch vor wenigen, und zwar weil alle nur noch online einkaufen werden.
Dieser Satz wird vermutlich ebenso in die Technikgeschichte eingehen wie der von IBM-Chef Thomas Watson, der 1949 sagte: „Ich denke, es gibt weltweit einen Markt für vielleicht fünf Computer…“
„Der Effekt der Distanz bleibt auch in virtuellen Marktplätzen bestehen“, schreiben Bo Cowgill von der University of California in Berkley und Cosmina Dorobantu von der Oxford University in ihrer 2014 erschienenen EU-Studie zur Bedeutung von Entfernung im Onlinehandel. Die Wahrscheinlichkeit, dass jemand eine Website in einem fremden Land besucht, nehme mit der Entfernung ab, stellten sie fest. Anders ausgedrückt: Ein Amerikaner wird viel eher eine Online-Pornoseite in Kanada besuchen als ein Brite. Ein Bayer würde eher den Onlineladen eines Ostfriesen besuchen als eines Südfranzosen.
In seinem Buch „Location is (Still) Everything“ nahm der Amerikaner David Bell die Kunden des populären Online-Bekleidungsladens Bonobo unter die Lupe und stellte fest, dass mehr als die Hälfte von ihnen von Nachbarn aufmerksam gemacht worden sind. Er konnte verfolgen, wie sich die Kunde von dem Angebot über angrenzende Postleitzahlengebiete ausbreitete, wobei die postalischen Regionen in der Regel eine ähnliche soziodemografische Zusammensetzung aufwiesen und in der Regel von Menschen aus dem gleichen Sozialschichten bewohnt waren.
Bell glaubt, dass die rasche Ausbreitung von Smartphones diese Entwicklung sogar noch unterstützt, weil die Menschen vorwiegend nach lokalen oder regionalen Sonderangeboten suchen und diese mit ihren Nachbarn teilen. Aber wie hieß es dochs chon vor 20 Jahren unter Online-Marketingmenschen? „Think global – act local!“