Am 1. Juli 2010 erschien die WELT KOMPAKT, die „kleine Schwester“ der großen deutschen Tageszeitung Die Welt, als „Scroll Edition“, gemacht nicht von den Redakteuren der Zeitung, sondern von etwa 20 deutschen Blogger/inn/n, unter ihnen gleich fünf Czyslanskys. Zur Rezeptionsgeschichte der Scroll Edition siehe den Beitrag hier auf Czyslansky und in der w&v. Im Folgenden dokumentiere ich meinen Beitrag zur Zukunft der sozialen Netze in Form des Rohmanuskripts:
Sterbende Netze – Warum wir alle ins Gesichtsbuch eingehen werden
Wie weiß schon der Prediger Salomo zu berichten: „Einer mag überwältigt werden, aber zwei mögen widerstehen; und eine dreifältige Schnur reißt nicht leicht entzwei“(4.12). Vielleicht wäre „Einfältigkeit“ eine Alternative, aber mehr als drei Netze benötigt wirklich keiner. Xing, LinkedIn, Viadeo, Facebook, Lokalisten, StudiVZ, SchülerVZ, Stayfriends, MySpace, wer-kennt-wen, Kwick, Twitter … der durchschnittliche Schland-Nerd ist heute in mehr Netzwerken gefangen, als er Freunde im richtigen Leben hat. Er ist ein Laokoon ohne Damokles-Schwert – ein Bild, das kaum schneller hinkt, als viele Netzwerke sich künftig auflösen werden.
Alter Schwede
Blogger Martin Weigert hat jüngst auf netzwertig.com dankenswerterweise auf das Beispiel Schweden verwiesen: dort haben sich soziale Netzwerke um einige Jahre früher durchgesetzt, als in Deutschland. Im sozialdemokratischen Musterland galt Gemeinschaft halt schon immer ein wenig mehr. Den Anfang machten dort lokale Netze wie Lunarstorm und Playahead, vergleichbar den deutschen Lokalmatadoren der VZ-Familie und den Lokalisten. Diese regionalen schwedischen Anbieter aber wurden in den letzten beiden Jahren massiv von Facebook verdrängt. Und in Deutschland scheint sich dieser Trend nun zu wiederholen. Während Facebook wächst und wächst, lösen sich die lokalen Netzwerke langsam auf und mit ihnen die Träume deutscher Investoren von Holtzbrinck bis ProSiebenSat1.
Vom Xing des Lebens
Im Bereich der professionellen Netze erwarten viele schon lange eine Marktbereinigung. International spielen hier eh nur noch drei Betreiber eine relevante Rolle: der globale Marktführer LinkedIn, die deutsche Nummer Eins Xing und die chinesisch-französische Achse Viadeo. Während Xing offenbar erhebliche Probleme hat sein Netz um Knoten außerhalb Deutschlands zu erweitern und Viadeo es inzwischen aufgegeben hat sein deutsches Netzwerk über die scharf umrissene Gruppe der Französischlehrerinnen im dunkelblauen Faltenrock hinaus auszudehnen, legt LinkedIn nach eigenen Aussagen derzeit in Deutschland und weltweit kräftig zu: in den vergangenen „111 Tagen“ – was eine neue Maßeinheit zu sein scheint – habe sich die Anzahl der verlinkten Mitglieder weltweit von 60 auf 70 Millionen erhöht. Sogar in Deutschland sei die Anzahl der aktiven Mitglieder innerhalb eines Jahres um 513 Prozent angewachsen. Und das bei oder gar wegen des Verzichts auf jegliches Marketing in Deutschland.
Die Menschenfischer von Facebook
Diese Erfolgsgeschichte von LinkedIn ist aber gar nichts im Vergleich zum aktuellen Siegeszug von Facebook: Allein zwischen November 2008 und November 2009 hat Facebook weltweit 238 Millionen Anwender neu hinzugewonnen – fast doppelt so viele wie Google und mehr als doppelt so viele wie Microsoft.
Dabei hat Facebook derzeit wirklich keine gute Presse: Spätestens mit seinem berühmten Interview auf dem Crunchies Event vom vergangenen Januar in San Francisco hat sich Facebook-Gründer Mark Zuckerberg zum Vorsprecher der „Privacy is dead“-Bewegung erklärt, die die vollständige Aufhebung der Privatheit im Internet-Zeitalter propagiert [wofür übrigens einiges spricht, aber das ist ein Thema für sich].
Warum aber wandern wir trotzdem alle wie die Leminge in Facebook? Vielleicht weil Facebook derzeit neben Apple und Google das einzige Softwareunternehmen ist, das über eine starke Vision verfügt, und dieser Vision bedingungslos zu folgen bereit ist. Vielleicht weil Mark Zuckerberg damit zurecht in die großen Fußstapfen von Bill Gates tritt, der in den 90iger Jahren Microsoft mit seiner Vision „A PC on every desk and in every home“ zu Glanz, Ruhm und Reichtum trieb.
Facebook will sich zum Kern einer Vielzahl unabhängiger sozialer Anwendungen aufschwingen, angefangen von der nahtlosen Integration des Microblogging-Dienstes Twitter bis hin zum zweiten Leben in Second Life.
Ein zweites Leben für Second Life
Um Second Life, vor einigen Jahren noch das Hype-Thema unter Online-Marketendern, belebte Plattform virtueller BMW- und Gucci-Schauräume und bevorzugter Meetingraum für Werber, war es in den letzten Jahren arg still geworden. Zuletzt haben sich die Avatare dort immer häufiger nackig gemacht und die Plattform verkam zu einer Plattform für Spieler und Avatar-Erotiker. Als Anfang Juni diesen Jahres die krisengeschüttelten Second Life-Macher die Entlassung eines Drittels ihrer Belegschaft ankündigten, ging die wichtigste Botschaft in der öffentlichen Berichterstattung weitgehend unter: dass Second Life künftig über einen einfachen Internet-Browser und optional auch über Facebook zugänglich sein wird: die Zukunft von Second Life besteht in einer virtuellen Spielwiese für Facebook-Avatare.
Linked In Facebook
Haben dann wenigstens die professionellen Netzwerke Xing und LinkedIn eine – unabhängige – Zukunft? Die große Zeit von Xing scheint vorbei zu sein. Die Wachstumszahlen sind rückläufig und vor allem die Wachstumsgrenze für bezahlte Profi-Accounts scheint in Kürze in Deutschland erreicht zu sein. Auch die Weiterentwicklung des Produkts hinkt deutlich hinter dem Vorbild LinkedIn her. Schließlich bietet LinkedIn seinen Anwendern mehr Funktionen für weniger Geld: im Gegensatz zu Xing kann man hier alle wichtigen Basisfunktionen kostenlos nutzen. Deshalb wird LinkedIn in den kommenden Jahren auch noch zulegen können: Anwender, die sich jetzt erst entschließen, berufliche Netzwerke zu etablieren, werden dies eher über LinkedIn tun. Xing war in Deutschland das Netz der Entrepreneure, LinkedIn wird das Berufsnetz der breiten Masse – jedenfalls wenn LinkedIn seine jüngst mit der Integration eines Twitter-Clients bewiesene Strategie der Öffnung zu anderen Netzen weiterverfolgt und sich das mächtige Facebook nicht zum Feind macht.
Das Netz der Netze
Facebook aber entwickelt sich nicht nur für soziale Netze zum „Über-Netz“. Mit den neuen „Community Pages“ – das sind automatisch generierte Seiten für alle möglichen Eigennamen, angefangen von Städten und Personen bis hin zu beliebigen Themen – will Facebook die gute alte Wikipedia beerben. Abonniert werden diese Seiten über den „Like“-Button. Dabei ergänzt jeder Klick auf einen „Like“-Button das User-Profil um einen weiteren Puzzle-Stein. Facebook wird diese Profile gegenüber Werbetreibenden vermarkten. Damit wird Facebook künftig erfolgreich Google Paroli bieten, die ja schon lange aus jedem Sucheintrag Profilinformationen gewinnen und im Rahmen von Affiliate- und Google-Ads-Marketing zu Geld machen.
Fazit: Im Facebook-Netz werden wir alle kleben bleiben – eher früher als später. Regionale Netze werden allenfalls ein hübsches Mauerblümchen abgeben und was es sonst noch gibt – von Twitter über YouTube bis zu Second Life – werden wir als Teil des einen Supernetzes erleben. Ach ja: und LinkedIn wird irgendwann Xing als führendes professionelles Netzwerk auch in Deutschland ablösen und zum Profi-Netz aller Facebook-User. So gehen wir schließlich alle ins Gesichtsbuch ein.
2 Antworten
Ich wage jetzt mal eine ganz provokante und riskante Prognose, auf Grund einer repräsentativen Studie von genau einem Menschen.
Ich war einer der ersten, der in allen und jedem, blöden Internet Netzwerk Mitglied war und mich langweilen diese blöden Dinger so sehr, dass ich mich nur aus lauter Langweile nicht abmelde.
Das wird schon bald den anderen auch so gehen … Soziale Netzwerke sind nur eine Episode, sie werden wie IRC, und Newsgroups irgendwann nur noch nostalgische Nischen für einen harten Kern sein.
Stammtische, Kleingartenvereieine, die Hitlerjugend, Studentenverbindungen, Rauchervereine, Sekten … alle sozialen Netzwerk-Arten haben ein Verfallsdatum …
@michael: Matthias Horx hat gesagt, du bist ein Loser. Nachzulesen bei ORF unter „Nur soziale Verlierer bleiben im Netz“
Willst du das auf dich sitzen lassen?