Tschernobyl – dreißig Jahre ist es heute her, dass die Reaktorkatastrophe unseren Alltag erheblich durcheinander wirbelte, meinen Alltag jedenfalls. Ich saß damals über meiner Promotionsarbeit, vorzugsweise in unserem Garten in Fürstenfeldbruck, als die ersten Nachrichten hereinbrachen. Wenige Tage später gehörte ich mit meiner Frau zum Gründerkreis der Bürgerinitiative gegen Atomkraft in Fürstenfeldbruck. In den nächsten Wochen und Monaten organisierten wir mit einem örtlichen Metzger die Anschaffung einer eigenen Messstation für verstrahlte Nahrungsmittel, wir sorgten für den Austausch des Spielsands auf den örtlichen Spielplätzen, wir organisierten Kundgebungen, serviertem einem bayerischen Staatsminister verstrahltes Trockenmilchpulver, wir machten und taten und sorgten und wirkten – die Bürger wurden aktiv gegen Radioaktivität, weil allzu viele Politiker, weil die Behörden schliefen und logen, dass sich die Reaktoren bogen. Wenn wir heute darüber jammern, dass die Politik in Sachverwaltung erstarrt, dass Demokratie nicht gelebt wird, dann sollten wir uns erinnern, dass Ignoranz und Schwermut vor dreißig Jahren nicht leichter auf unserem Land lasteten und dass viele von uns erst mit einer ungehörigen Portion Caesium und Strontium aktiv wurden.
Damals wurden viele „anpolitisiert“, die sich vor der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl niemals hätten vorstellen können, einmal auf eine „Demo“ zu gehen. Gäbe es einen grünen Ministerpräsidenten in Stuttgart ohne Tschernobyl? Wohl kaum. Und gäbe es das Rückrat, das es heute bei vielen Kommunalpolitikern in den demokratischen Parteien gibt ohne Tschernobyl? Na, es gäbe jedenfalls weniger Rückrat und mehr Krümmung.
Es gibt am heutigen Jahrestag der Katastrophe genügend kenntnissreiche Rückschauen. Der Generation Ü40 muss ich eh nichts über die damaligen Monate erzählen. Statt einem Rückblick möchte ich einen kleinen Leserbrief abdrucken, den ich vor dreißig Jahren – einige Tage nach der Katastrophe – in meiner schon damals geliebten Süddeutschen Zeitung veröffentlichte.
Es treten auf: ein stummer Landrat, ein inzwischen verstorbener Ministerpräsident, ein Bürgermeister namens Steer, ein aufrechter SZ-Redakteur, ein Geigerzähler, eine WAA und viele protestierende Bürgerinnen und Bürger im Landratsamt Fürstenfeldbruck. Ein Märchen aus noch längst nicht vergangener Zeit:
„Als ich kürzlich wieder einmal in meinem Märchenbuch blätterte, da fand ich folgende Geschichte:
Es begab sich in jenen Jahren, da das Königreich Bavaria noch vom dicken alten und von seinem Volk geliebten König Franz-Josef regiert wurde, dass plötzlich großes Ungemach über sein Reich hereinbrach. Zahllose schreckliche kleine Ungeheuer, allen voran die grausamen Jods und die nicht minder gefürchteten Caesiums waren vom Herrscher des dunklen Reiches im Osten ausgesandt worden, um Unheil über das liebliche Bavaria zu bringen.
In einem kleinen, uns wohlbekannten bavarischen Dorf an den Ufern der Koli-Amper trafen sich eines Tages einige wackere Untertanen des alten Königs zum großen Ratschlag. Ihre Kinder waren im Sand von den Ungeheuern überrascht worden, in ihren Gärtlein Salat und Beeren unheilvoll verzaubert. Sie hatten aber von einem Zauberspiegel gehört, der sich im Besitz eines in der Nähe ansässigen Schlachters befinden sollte. Dieser Zauberspiegel machte angeblich die kleinen normalerweise unsichtbaren Jods und Caesiums sichtbar. Sie erstellten schnell eine Petitionsliste, in der achthundert weitere Untertanen des Königs kundtaten, dass sie einen solchen Zauberspiegel haben wollten, um den Kampf gegen die Ungeheuer aufnehmen zu können.
Alsbald taten sich vierzig von ihnen zusammen, um mit ihren Kindern dem örtlichen Vasallen des Königs, dem Landrat, ihr Anliegen vorzutragen. Der aber war dem König treu ergeben und der König hatte Angst vor den Zauberspiegeln, züchtete er doch selbst in einem großen dunklen Wald im Osten seines Reiches ähnliche Ungeheuer wie die schlimmen Jods und Caesiums. So wurden also die tapferen Untertanen von den Schranzen des Landrats nicht vorgelassen und aus seinem Schloss vertrieben. Selbst als der Ausrufer Husem mit seinen Mannen die Sache kundgab, rührte sich nichts. Weder der Landrat, noch der Magister der Stadt, dem man in der Sache die Sensibilität eines Sters Holz nachsagte, noch gar die, im „Chor Strengtreuer Untertanen“ konföderierten Hofnarren mochten sieh mit einem Zauberspiegel in den Kampf gegen die bösen Mächte wagen!
Die Geschichte könnte natürlich an dieser Stelle zu Ende sein, würden Märchen im Gegensatz zur Wirklichkeit — nicht immer einen guten Ausgang nehmen. Und so fährt denn der Berichterstatter fort:
Nachdem übers Jahr nichts geschehen war, kein Zauberspiegel die Jods und Caesiums schreckte, im östlichen Wald Bavariens neue Ungeheuer gezüchtet wurden, wurde der Unbill vom aufgebrachten Volk ein Ende bereitet. Grüne Hexen und junge rote Zauberer vertrieben zusammen mit vielen Untertanen den Magister und füllten den dicken Bauch des alten Königs mit Wackersteinen aus dem nahen Wackersdorf. Mit dem Gold der Pfeffersäcke kauften sie einen Zauberspiegel und lebten fortan in Frieden und Glückseligkeit.“
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Ich möchte diese kleine Erinnerung Ralf Husemann widmen, in jenen Jahren aufrechter investigativer und kritischer Journalist der Fürstenfeldbrucker Neuesten Nachrichten (Süddeutsche Zeitung) und ein wichtiger Ansprechpartner der Bürgerinnen und Bürger in Stadt und Landkreis.
Ich erinnere mich gut an die Akteure der Geschichte.
Da war ein Meister Jakob, eine Holde und ein Messmaennle. Poitischer Nebenschauplatz war eine heftig umkaempfte Kuehlzelle.
Man koennte direkt nostalgisch warden.